Nach einer rund zehn Stunden andauernden Durchsuchung ihrer Wohnung durch Beamte der türkischen Antiterrorpolizei ist Gülşen Kandemir am Dienstagabend im zentralanatolischen Konya festgenommen worden. Der 71 Jahre alten Kurdin wird wegen materieller Hilfe für ihren inhaftierten Bruder die „Unterstützung einer terroristischen Organisation“ vorgeworfen. Quelle der Anschuldigung sei ein Bericht der im Finanzministerium angesiedelten Ermittlungsbehörde für Finanzkriminalität (MASAK), sagt ihr Rechtsanwalt Alican Şahin. „Den Vorwurf der Terrorunterstützung im Zusammenhang mit finanzieller Hilfe für inhaftierte Angehörige zu erheben, hat sich in den letzten Jahren zu einer Art Trend entwickelt“, kritisiert der Jurist. Auf diese Weise werde ein zusätzlicher Unterdrückungsmechanismus in Gang gesetzt, der beide Seiten trifft und innerhalb der Gefängnismauern einem Todesurteil gleichkäme. Bei der Razzia seien Briefe, Bücher, ein Handy sowie ein Laptop beschlagnahmt worden.
Gülşen Kandemir ist die Schwester von Hayati Kaytan. Der heute 55-Jährige war Kader der kurdischen Arbeiterpartei PKK, als er 2001 im nordostsyrischen Qamişlo verhaftet und zwei Jahre später vom Regime an die Türkei übergeben wurde. 2005 wurde er dort zu einer verschärften lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt und befindet sich derzeit im Hochsicherheitsgefängnis von Bolu, Aussicht auf vorzeitige Entlassung hat er nicht. Vom Menschenrechtsverein IHD wird Kaytan zudem in der Liste der schwerkranken Gefangenen geführt und gilt mit einem Grad von 60 als schwerbehindert.
Hayati Kaytan (l.) und seine 2014 verstorbene Mutter Gülizar Kaytan, die 1938 den Genozid in Dersim überlebte
Kaytans rechte Hand ist funktionsunfähig, die Zehen am linken Fuß wurden wegen Kälteverbrennungen amputiert, an den Fersen gibt es offene Wunden. Im Zuge von Transfers in Krankenhäuser, die er in der Regel stehend in Zellen von speziell angefertigten Gefangenentransportern („Mavi Ring“) verbrachte, erlitt er einen Bandscheibenvorfall und eine Nackenhernie (Bandscheibenvorfall in der Halswirbelsäule). 2009 wurde ihm ein bösartiger Hirntumor entfernt, seitdem leidet er unter epileptischen Anfällen. Vor einigen Jahren wurde dann auch ein Tumor an der Speicheldrüse festgestellt, der entgegen ärztlicher Empfehlung noch immer nicht operiert worden ist. Obwohl er bedingt durch seine Krankengeschichte ohne die Hilfe seiner Mitgefangenen so gut wie nicht in der Lage ist, sich selbst zu versorgen, musste er in den vergangenen Jahren immer wieder für mehrere Monate in Isolationshaft – angeblich verstieß Kaytan jedes Mal gegen Disziplinarvorschriften. Ohne die Unterstützung seiner Angehörigen kann er sein Leben im Gefängnis nicht finanzieren.
Hayati Kaytan ist darüber hinaus einer von vier „Lebenslänglichen“ der sogenannten Gurban-Gruppe, die erfolgreich vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg gegen die Türkei geklagt haben, weil ihnen das Recht auf Hoffnung nicht eingeräumt wird. Weitere Mitglieder der Gruppe sind Abdullah Öcalan, Civan Boltan und Emin Gurban. Sie alle eint, dass sie bis zum physischen Tod im Gefängnis bleiben sollen. Dies aber stellt nach den Ausführungen des EGMR eine unmenschliche und erniedrige Behandlung und damit einen Verstoß gegen Artikel 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) dar. Laut dem Gericht müssen lebenslänglich Verurteilte zumindest Aussicht auf eine vorzeitige Haftentlassung haben. Die Strafe muss reduzierbar sein und einer Nachprüfung unterzogen werden können. Dies ist aber weder bei Kaytan, noch bei den anderen Gefangenen aus der Gurban-Gruppe, bis heute nicht geschehen - trotz einer Rüge aus dem Europarat.
Wie geht es nun mit Gülşen Kandemir weiter? Nach Angaben ihres Verteidigers Alican Şahin wird die Seniorin die nächsten Tage vermutlich in Polizeihaft verbringen. Erst für Ende dieser Woche sei die Überstellung an eine Staatsanwaltschaft in Konya geplant, habe es aus Justizkreisen geheißen. Şahin befürchtet, dass der Polizeigewahrsam möglicherweise erhebliche Auswirkungen auf die Gesundheit seiner Mandantin haben könnte, denn Kandemir ist ebenfalls krank. 2021 hatte sie einen Schlaganfall und ist in Dauertherapie. Außerdem leidet sie an hohem Blutdruck und einer Schilddrüsenüberfunktion. „Damit endet das Drama aber nicht. Gülşen Kandemirs Ehepartner ist herzkrank. Die Sorge um sie und ihre Versorgung ist eine nicht zu unterschätzende Belastung für seine Gesundheit“, so Şahin.