Obwohl dem politischen Gefangenen Civan Boltan ein Arm fehlt, ein Auge vollständig zerstört ist und beim anderen nur noch eine Sehfähigkeit von 30 Prozent besteht, ihm zudem ein Schrapnell im Gehirn steckt, wurde ihm erneut die Entlassung aufgrund von Haftunfähigkeit verweigert.
Dem schwer versehrten politischen Gefangenen Civan Boltan wird auch nach elf Jahren die Entlassung aus der Haft aufgrund von Haftunfähigkeit verweigert. Boltan geriet am 24. April 2012 als Guerillakämpfer in Gefangenschaft. Bei dem Gefecht mit dem Militär zerschlug er nach dem er keine Kugeln mehr hatte seine Waffe und versuchte, sich selbst mit einer Handgranate in die Luft zu sprengen, um nicht in Gefangenschaft zu geraten. Dabei wurde sein rechter Arm vollständig zerfetzt, und er verlor die Sehkraft auf einem Auge. Seine Verletzungen waren so schwerwiegend, dass er für tot gehalten und im Leichensack zur Gerichtsmedizin gebracht wurde. Dort wurde festgestellt, dass er noch am Leben war. Sein von Schrapnellen durchbohrter Körper wurde anschließend von Soldaten so schwer misshandelt, dass er auf dem verbliebenen Auge ebenfalls 70 Prozent seiner Sehkraft einbüßte.
EGMR verurteilte Türkei im Fall Boltan
Boltan, der mit einem Schrapnell im Gehirn leben muss, wandte sich an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), und die Türkei wurde des Verstoßes gegen Artikel 3, dem Verbot von Folter und Misshandlung, für schuldig befunden. Bei der Wiederaufnahme des Verfahrens nach dem „Verstoß“ bestätigte die 3. Strafkammer des Kassationsgerichts jedoch die vom örtlichen Gericht verhängte „verschärfte lebenslange Freiheitsstrafe“. Begründet wurde dies damit, dass das türkische Strafgesetzbuch geändert werden müsse, um das EGMR-Urteil umzusetzen. Boltan hatte zuletzt beantragt, zur Behandlung entlassen zu werden. Das berüchtigte Gerichtsmedizinische Institut (ATK) bescheinigte ihm jedoch „Haftfähigkeit“.
„Weder Gewissen noch Gerechtigkeit“
Boltans Mutter, Nazime Boltan, nimmt an der seit einem Jahr und drei Monaten andauernden Gerechtigkeitsmahnwache für die kranken Gefangenen teil. Sie protestiert gegen die Entscheidung des gerichtsmedizinischen Instituts: „Diejenigen, die freigelassen werden, werden nur im letzten Moment freigelassen, damit sie nicht im Gefängnis sterben. Sie alle sterben kurz nach ihrer Entlassung. Gefangene, die wegen Zuhälterei, Feminizid und Putsch verurteilt wurden, werden jedoch freigelassen. Wenn es Gerechtigkeit und Gewissen gäbe, würden unsere Stimmen gehört, und jeder würde gleich behandelt werden.“
Seit fünf Jahren kein Besuch möglich
Die Mutter berichtet, dass ihr Sohn in das etwa 1300 Kilometer entfernte Bolu exiliert worden sei. Sie sagte: „Ich habe ihn seit fünf Jahren nicht mehr sehen können, weil ich aufgrund meiner gesundheitlichen Probleme nicht reisen kann. Alle zwei Wochen kann ich seine Stimme für 10 Minuten am Telefon hören. Unsere Bitten, ihn nach Amed (tr. Diyarbakır) zu verlegen, waren erfolglos. Gefangene an Orte zu verbannen, die weit von ihren Familien entfernt sind, ist nichts als Grausamkeit. Manche Mütter und Väter können nicht reisen, weil sie krank oder alt sind, und können ihre Kinder jahrelang nicht sehen. Es gibt Mütter und Väter, die durch diese Sehnsucht ihr Leben verloren haben. Wenn es in der Türkei Gerechtigkeit gäbe, würde so etwas nicht passieren.“
Sie berichtete über die Geschehnisse am Gerichtsmedizinischen Institut, wo Boltan drei Monate zuvor den Antrag auf Entlassung eingereicht hatte: „Obwohl ihm ein Auge und ein Arm fehlten und er ein Schrapnell im Gehirn hatte, hat das Gerichtsmedizinische Institut ihm die Entlassung verweigert. Was für eine Art von Gerechtigkeit ist das, trotz all dieser Krankheiten wurde er nur hin- und her transportiert. Das ist nichts weiter als Folter.“
„Die Lösung liegt auf Imrali“
Boltan unterstrich, dass die kurdische Frage und damit auch die Situation der Gefangenen durch die Aufhebung der Isolation Öcalans gelöst werden könnten. Sie führte aus: „Warum hat es seit Jahren keinen Besuch auf Imrali gegeben? Ich verstehe das nicht. Wenn es eine Lösung geben soll, muss sie von dort ausgehen. Von dort aus wird sie sich auf die gesamte Gesellschaft ausbreiten. Das ganze Volk und die Nichtregierungsorganisationen sollten sich um Imrali zusammenschließen. Denn die Lösung liegt auf Imrali.“