Samstagsmütter kritisieren Gewalt in Polizeigewahrsam

Die Initiative der Samstagsmütter hat der Istanbuler Polizei Körperverletzung, Beschimpfungen und Drohungen gegen mehrere Mitglieder vorgeworfen und juristische Schritte angekündigt.

Die Initiative der Samstagsmütter hat der Istanbuler Polizei Körperverletzung, Beschimpfungen und Drohungen gegen mehrere Mitglieder vorgeworfen und juristische Schritte angekündigt. Man sei entschlossen, alle rechtlichen Mittel auszuschöpfen und sich gegen die Gewalt zur Wehr zu setzen, sagte die Ko-Vorsitzende des Menschenrechtsvereins IHD, Eren Keskin, am Samstagabend in Istanbul. Erst kurz zuvor waren Keskin und sechzehn weitere Unterstützende sowie Mitglieder der Samstagsmütter von der Polizei auf freien Fuß gesetzt worden. Die Festnahmen erfolgten im Zuge der wöchentlichen Mahnwache der Initiative, die von der Polizei allerdings verhindert worden war.

17 Festnahmen, Medienschaffende an Arbeit gehindert

Zum 943. Mal wollte die Samstagsmütter am Sonnabend in Istanbul zusammenkommen, um Gerechtigkeit für ihre in den 1990er Jahren verschleppten Angehörigen zu fordern, die im Polizeigewahrsam verschwundenen sind. Ihr angestammter Platz vor dem Galatasaray-Gymnasium in der Einkaufsmeile Istiklal Caddesi, wo die Gruppe anlässlich des Zuckerfestes rote Nelken niederlegen wollte, war jedoch weiträumig durch Barrieren und Gitter abgesperrt. Die Bereitschaftspolizei war mit einem Großaufgebot im Einsatz und verhinderte, dass sich die Gruppe dem Platz nähern konnte. Ohne Vorwarnung wurden grobe Festnahmen durchgeführt, Medienschaffende an der Arbeit gehindert. Im Gefangenenbus seien die Betroffenen schließlich gewaltsam angegangen worden.


Türkei ist ein orwellscher Polizeistaat

„Die dritte Woche in Folge wurde die Mahnwache der Samstagsmütter durch die Istanbuler Polizei mittels Gewalt und Festnahmen unterbunden“, sagte Eren Keskin auf einer Pressekonferenz in den Räumlichkeiten der IHD-Zweigstelle. „Dies geschah nicht nur ohne jegliche rechtliche Grundlage und entgegen dem im Grundgesetz verankerten Recht auf Versammlungs- und Demonstrationsfreiheit. Das polizeiliche Vorgehen gegen die Samstagsmütter steht auch im Widerspruch zu einem Urteil des Verfassungsgerichtshofs“, betonte die Juristin. Damit demonstriere die dem Innenministerium unterstellte Sicherheitsbehörde, dass es sich bei der Türkei um einem orwellschen Polizeistaat handele und die verfassungsmäßige Gewaltenteilung faktisch aufgehoben sei. „Wir sind entschlossen, unseren Widerstand hiergegen ebenfalls konsequent fortzusetzen. Denn wir sind im Recht“, so Keskin.

Besna Tosun: Von Polizistinnen im Gefangenentransporter misshandelt

Die Samstagsmütter-Aktivistin Besna Tosun schilderte im Anschluss, dass sie im Gefangenenbus von zwei Polizeibeamtinnen misshandelt worden sei. Ihre Hände seien mit Handschellen auf den Rücken gefesselt gewesen und sie habe den Eindruck gehabt, dass die Polizistinnen gezielt versucht hätten, ihr die Knochen zu brechen. „Ich habe meine Knie gegen die vorderen Sitze gepresst, um diese sogenannten Schmerzgriffe abzuwehren, die offensichtlich für den Zweck angewendet wurden, mir Knochenbrüche zuzufügen. Sie haben mich auch beschimpft und beleidigt. Der Gefangenentransporter ist nicht videoüberwacht. Da fühlen sich Beamte der Staatsgewalt unbeobachtet und können Gewalt, Rassismus und andere Neigungen ungestört ausleben. Einer anderen betroffenen wurde gedroht: ‚Wir werden euch diesen Staat nicht überlassen‘. Ich überlasse es der Phantasie der Öffentlichkeit, sich auszumalen, was damit gemeint sein könnte“, so Tosun.

Der Weg zum Frieden führt am Galatasaray-Platz vorbei

Besna Tosun stammt aus Licê in Amed (tr. Diyarbakir). Sie war zwölf Jahre alt, als ihr Vater Fehmi Tosun 1995 in Istanbul von bewaffneten Zivilpolizisten verschleppt wurde. Danach tauchte er nie wieder auf. Neben Besna Tosun wurde auch ihre Mutter Hanım am Samstag Opfer von Polizeigewalt – trotz Hinweisen auf eine kürzlich erfolgte Herzoperation und einen Armbruch. In dem Fahrzeug habe 34 Grad Innentemperatur geherrscht, das sei vor allem für die Älteren schwer auszuhalten gewesen. Zudem erhielten die Festgenommenen über mehrere Stunden in Polizeigewahrsam weder Trinkwasser noch durften sie auf die Toilette. Die Aktivistin verurteilte das Schweigen von weiten Teilen aus Zivilgesellschaft und Opposition angesichts der sich seit drei Wochen wiederholenden Gewaltexzesse der Polizei gegen die Samstagsmütter und warf ihnen eine Mitschuld vor. „Ihr tragt die Schuld dafür, dass wir dieser Gewalt ausgesetzt werden“, sagte die Aktivistin, ohne Namen zu nennen. „Wir aber werden den Widerstand nicht aufgeben und unseren Kampf um Gerechtigkeit fortsetzen. Der Weg zum Frieden führt am Galatasaray-Platz vorbei“, so Besna Tosun.

Verfassungsgericht: Blockade des Galatasaray-Platzes rechtswidrig

Mit Urteil vom 22. Februar 2023 hatte der Verfassungsgerichtshof, das höchste Gericht der Türkei, einer Klage der Samstagsmütter stattgegeben und Einwände des Innenministeriums, das den „Schutz der öffentlichen Ordnung“ durch die wöchentlichen Mahnwachen der Initiative bedroht sieht, verworfen. „Jedermann hat das Recht, ohne vorherige Erlaubnis an unbewaffneten und friedlichen Versammlungen und Demonstrationen teilzunehmen“, heißt es in Artikel 34 der türkischen Verfassung, gegen den Innenressort und Sicherheitsbehörden mit der Verbotsverfügung für eine vor fünf Jahren gewaltsam aufgelöste Aktion der Samstagsmütter und alle folgenden verstoßen haben. Die Blockade des Galatasaray-Platzes sei damit hinfällig.

Politische Interventionen in Prozess gegen Samstagsmütter

Der Platz ist seit der durch Innenminister Süleyman Soylu angeordneten Auflösung der 700. Mahnwache am 25. August 2018, bei der Wasserwerfer, Gummigeschosse und Tränengas – auch gegen über 80-Jährige – eingesetzt worden waren, gesperrt. Die Begründung: Die Samstagsmütter würden sich von „Terrororganisationen“ instrumentalisieren lassen. Der Prozess gegen 46 Personen, die damals festgenommen worden waren, ist noch immer nicht abgeschlossen – wegen „ständiger politischer Interventionen“, wie der IHD kritisiert. Drei Richter sind seit dem Verfahrensauftakt im März 2021 ausgetauscht worden, der für den 3. Februar 2023 angesetzte letzte Prozesstermin wurde auf unbestimmte Zeit verschoben.