Bei ihrer wöchentlichen Mahnwache gegen das „Verschwindenlassen“ in Gewahrsam hat die Initiative der Samstagsmütter Gerechtigkeit für Ibrahim Demir und Agit Akipa gefordert. Beide Männer wurden vor dreißig Jahren in einem Dorf bei Hezex (tr. Idil) in der nordkurdischen Provinz Şirnex von der türkischen Gendarmerie festgenommen. Einen Tag später fand man in einer Höhle ihre Leichen. Sie waren gefesselt, hatten verbundene Augen und wiesen Folterspuren auf. Die Täter wurden nicht zur Rechenschaft gezogen.
„Seit dreißig Jahren kämpfen wir nun dafür, dass die Täter von damals bestraft werden. Wir sind entschlossen, diesen Kampf fortzusetzen. Auch wenn sie 3.000 Jahre dauert: unsere Suche nach Wahrheit und Gerechtigkeit werden wir nicht aufgeben“, erklärten Suzan und Fehmi Akipa sowie Metin Demir, die Kinder der Ermordeten, in einer gemeinsamen Stellungnahme.
Es war die inzwischen 871. Mahnwache der Samstagsmütter, die bedingt durch die Corona-Pandemie virtuell abgehalten wurde. Die Initiative verurteilte den Unwillen des Staates, sich der eigenen Wahrheit zu stellen, die Mörder von Ibrahim Demir und Agit Akipa preiszugeben und den Opfern Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. „Es wurde noch nicht einmal ein Gerichtsverfahren geführt“, sagte Suzan Akipa. Es gebe unzählige Fälle wie diese, die zu gesellschaftlichem Schmerz führten, aber von der türkischen und europäischen Justiz dahingehend unbeachtet blieben, sie in die Verjährung zu drängen.
716. Mahnwache der Samstagsmütter für Ibrahim Demir und Agit Akipa im Dezember 2018 | Archivbild: Pirha
Die 90er: Ausbau des Dorfschützersystems
Ibrahim Demir (36) und Agit Akipa (39) lebten im Dorf Xenduk, dessen türkischer Name Çukurlu lautet. Akipa war Vorsteher des Dorfes. Es waren die frühen neunziger Jahre, in denen die „Spezialkriegsabteilung der türkischen Armee“ im Rahmen ihrer sogenannten Aufstandsbekämpfung das Dorfschützersystem intensiv ausbaute. Dorfschützer sind paramilitärische Einheiten, die in Kurdistan gegen die Guerilla und unliebsame Oppositionelle eingesetzt werden. Sie bestehen zu einem beträchtlichen Teil aus Stammesführern, Großgrundbesitzern, Familien und Einzelpersonen, die oft schon seit Jahrzehnten mit dem Staat zusammenarbeiten und versuchen, in Kurdistan für die Interessen des Staates einzutreten.
Ein Teil der Dorfschützer tritt diesem System freiwillig bei, andere werden mit Mord, Verhaftung und Vertreibung bedroht und müssen unter Druck Dorfschützer werden. Als historisches Vorbild der Dorfschützer gelten die Hamidiye-Regimenter im Osmanischen Reich. Das heutige Dorfschützersystem ist 1985 entstanden, ein Jahr nach dem Auftakt des bewaffneten Kampfes der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK). Damals begann die türkische Regierung unter Turgut Özal damit, kurdische Stämme und Clans im Krieg gegen die PKK anzuwerben und zu bewaffnen. Tausende kurdische Dörfer, die das Dorfschützersystem ablehnten, wurden in den 1990er Jahren vom Staat niedergebrannt und dem Erdboden gleichgemacht.
Die Geschichte von Ibrahim Demir und Agit Akipa
Ging es nach dem Militär, sollten sich auch die Bewohnerinnen und Bewohner von Xenduk als Dorfschützer betätigen. Es hatte bereits mehrfach eindringliche Ansagen gegeben, auch wurde Agit Akipa als Ortsvorsteher offen gedroht. Doch die Familien in Xenduk weigerten sich, dem Dorfschützersystem beizutreten. In den ersten Tagen des Dezembers im Jahr 1991 wurde die gesamte Ortschaft von Soldaten der Gendarmerie, also der Militärpolizei, besetzt. Die Dorfschule wurde in einen Militärstützpunkt verwandelt, mehrere Häuser der Bevölkerung beschlagnahmt. Agit Akipa und Ibrahim Demir machten sich auf den Weg nach Hezex und forderten bei Landrat und Innenministerium den Abzug der Soldaten aus dem Dorf. Daraufhin wurde der staatliche Druck noch stärker. Am 12. Dezember 1991 wurde der Laster, in dem sich Akipa und Demir seit ihrem Rückweg aus der Kreisstadt Hezex aufhielten, vor dem Dorfeingang angehalten. Die zwei Männer wurden von Soldaten aus dem Fahrzeug gefischt und an einen unbekannten Ort gebracht. Als Familienangehörige bei der Gendarmerie Fragen zu ihrem Verbleib stellten, erklärte der zuständige Kommandant, Akipa und Demir noch nie gesehen zu haben. Doch ein Soldat gab den Familien heimlich den Hinweis, in den Höhlen eines nahegelegenen Gebirgsmassivs zu suchen. Am 13. Dezember 1991 wurden die Leichname von Ibrahim Demir und Agit Akipa in einer mit Steinen abgedeckten Höhle gefunden. Sie waren gefesselt worden und hatten verbundene Augen. Ihre Körper waren übersät mit Folterspuren.
Uns bleibt nichts anderes übrig, als zu hoffen
Die Angehörigen von Ibrahim Demir und Agit Akipa erstatteten zwar Anzeige und ließen nichts unversucht, den Fall vor Gericht zu bringen. Doch bis heute haben die Ermittlungen zu keinem Ergebnis geführt. Der Rechtsanwalt der Hinterbliebenen war Tahir Elçi, der später Vorsitzender der Anwaltskammer von Amed (Diyarbakir) wurde – und 2015 selbst von staatlichen Kräften ermordet wurde. „Uns bleibt nichts anderes übrig, als darauf zu hoffen, dass es eines Tages so etwas wie Demokratie in diesem Land geben wird und Fälle des Verschwindenlassens in Gewahrsam von einer unabhängigen und mutigen Justiz aufgeklärt werden“, sagt Fehmi Akipa. „Damit die Opfer Gerechtigkeit erfahren können.“