Trotz der seit 2003 von der türkischen Regierung propagierten „Null-Toleranz”-Politik ist Folter in Polizei- und Militärhaft sowie in Gefängnissen in der Türkei noch immer weit verbreitet und damit weiterhin eines der größten Menschenrechtsprobleme des Landes. Darauf machen die Weltorganisation gegen Folter (OMCT), der Gefangenenhilfsverein CISST (Zivilgesellschaft für den Strafvollzug), das Zentrum für Sozialhilfe, Rehabilitation und Wiedereingliederung für Opfer von Folter und Gewalt SOHRAM-CASRA, die Stiftung zur Untersuchung von Gesellschaft und Recht TOHAV, der Menschenrechtsverein IHD und die Menschenrechtsstiftung der Türkei TIHV in einer gemeinsamen Erklärung anlässlich des Internationalen Tags der Menschenrechte aufmerksam.
Fünf Jahre sind vergangen, seit der UN-Sonderberichterstatter Nils Melzer einen Report über Folter in der Türkei veröffentlicht hat. Darin listet er Vorwürfe über Folter und Misshandlungen in Gewahrsam und Haft nach dem Pseudoputsch auf. Bei Verhören seien viele der Festgenommenen geschlagen worden. Es hätte Fausthiebe ins Gesicht, Tritte und schlimme Prügel gegeben. Dazu kamen Drohungen mit sexueller Gewalt, in einigen Fällen auch vollzogene Vergewaltigungen. Weiterhin seien viele Häftlinge durch Schlafentzug misshandelt worden, oft sei den Gefangenen auch Wasser und Essen vorenthalten worden. Die Maßnahmen, die die türkische Regierung nach dem angeblichen Umsturzversuch ergriffen habe, hätten dazu geführt, dass Misshandlungen und Folter weit verbreitet gewesen seien.
Regierung hat weitere regressive Maßnahmen ergriffen
„Doch obwohl sich die türkischen Behörden damals verpflichteten, die Verantwortlichen zu ermitteln, zu verfolgen und zu bestrafen, zeigt die düstere Realität vor Ort ein anderes Bild“, stellen die Organisationen fest. Statt das absolute Folterverbot durchzusetzen, seien weitere regressive Maßnahmen ergriffen worden, die als deutlicher Rückschritt bei der Bekämpfung der Straflosigkeit und der Gewährleistung grundlegender Menschenrechte angesehen würden. Die Zunahme von Folter, Misshandlung und grausamer, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung in Polizei- und Militärgewahrsam oder in Gefängnissen sei unter anderem auf die Verletzung von elementaren Verfahrensgarantien, lange Haftzeiten und vorsätzliche Fahrlässigkeit zurückzuführen, „die auf verschiedenen Ebenen des Staates zur gängigen Praxis geworden sind“.
Antiterrorgesetzgebung dient Kriminalisierung der Opposition
Die türkische Antiterrorgesetzgebung enthält eine inakzeptabel breite Definition von „Terrorismus“ und „terroristischen“ Handlungen, der es an dem von den internationalen Menschenrechtsnormen geforderten Maß an Rechtssicherheit fehlt. Die Organisationen kritisieren, dass dies dazu führt, dass Verfolgungsbehörden immer häufiger die Antiterrorgesetzgebung gegen Einzelpersonen für Aktivitäten anwenden, die durch die Rechte auf freie Meinungsäußerung, Vereinigungsfreiheit und politische Beteiligung geschützt sind. „Das Konzept der terroristischen Straftaten wurde instrumentalisiert und als Vorwand missbraucht, um politische Dissidenten zum Schweigen zu bringen, zu unterdrücken und zu kriminalisieren. Nach Angaben des Europarats hat die Türkei die größte Zahl von Häftlingen, die wegen terroristischer Straftaten verurteilt wurden. Die Zahl der Gefangenen ist in den letzten 10 Jahren um 115,3 Prozent gestiegen, was dazu geführt hat, dass die Türkei im Jahr 2020 die höchste Inhaftierungsrate unter den 47 Mitgliedsländern des Europarates aufweist.“
Repressive Agenda trotz Corona
Die Organisationen erklären, dass die Regierung in Ankara auch im Kampf gegen die Corona-Pandemie eine repressive Agenda verfolge. Ungeachtet heftiger nationaler und internationaler Kritik hatte das türkische Parlament im April vergangenen Jahres ein umstrittenes Amnestiegesetz beschlossen, um die Ausbreitung von Infektionen in den überfüllten Haftanstalten des Landes einzudämmen. Rund 100.000 Häftlinge wurden in der Folge vorzeitig entlassen, die unter Terrorvorwürfen inhaftierten politischen Gefangenen jedoch – Politiker:innen, Rechtsanwält:innen, Journalist:innen, Menschenrechtler:innen – sind von der Regelung ausgenommen worden.
Angeprangert wird auch die Tatsache, dass die türkische Regierung lediglich der Veröffentlichung von zwei Berichten des Antifolterkomitees CPT veröffentlichte, obwohl seit Juli 2016 zwei periodische Besuche und drei Ad-Hoc-Besuche stattfanden, bei denen Folter und Misshandlung in Polizeigewahrsam und Gefängnissen festgestellt wurden. „Das Fehlen unabhängiger Überwachungs- und Präventionsmechanismen wird auch dadurch deutlich, dass zivilgesellschaftliche Organisationen in der Türkei keinen Zugang zu Haftanstalten haben, was das Problem zusätzlich verschärft hat“, kritisieren die Organisationen. Darüber hinaus seien Rede-, Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit von Oppositionellen, Medienschaffenden, Aktiven für Menschenrechte und allen anderen, die die Politik der Regierung kritisierten, „ständigen Angriffen“ ausgesetzt.
Besonders betroffen seien Andersdenkende bei der Ausübung ihrer Grundrechte von juristischer Schikane. „Das Recht auf freie Meinungsäußerung und Versammlungsfreiheit wurde durch gesetzliche Einschränkungen und missbräuchliche Praktiken der Behörden stark eingeschränkt, wobei einige Gruppen besonders stigmatisiert und ausgegrenzt werden. Die Behörden haben insbesondere Frauen und LGBTI+-Menschen ins Visier genommen, indem sie Veranstaltungen, einschließlich Pride-Märschen, verboten und homophobe Reden hochrangiger Staatsbediensteter gebilligt haben.“
Besorgniserregende Situation für Frauen
Den Austritt der Türkei aus der Istanbul-Konvention als ein Land, in dem Femizide und häusliche Gewalt weit verbreitet sind, bezeichnen die Organisationen als „herben Rückschlag für die Rechte von Frauen und Mädchen“. Bei dem Abkommen handelt es sich um das erste völkerrechtlich verbindliche Instrument auf europäischer Ebene zum Schutz von Frauen, Mädchen und LGBTI+ (Lesben, Schwule, Bisexuelle, Trans- und Intergeschlechtliche Menschen) gegen jede Form von Gewalt. Das Abkommen verankert das Menschenrecht auf ein gewaltfreies Leben, definiert Gleichstellungsmaßnahmen und fordert finanzielle Mittel für Gewaltschutz und Gewaltprävention. Die Türkei hat es am 1. Juli auf Anordnung des Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan verlassen. Doch damit nicht genug: Auch das Gesetz Nr. 6284, das nach Angaben der AKP-Regierung als „Schutzmantel für Frauen“ wirken soll, wird inzwischen in Frage gestellt. Das Gesetz garantiert Frauen auf dem Papier sofortige und notwendige Leistungen, wie etwa Schutz in einem Frauenhaus, temporären Schutz durch Begleitungen, finanzielle Unterstützung und eine Krankenversicherung sowie ein Näherungs- und/oder Kontaktverbot, wird aber kaum umgesetzt. Würde es gänzlich abgeschafft, könnten die Frauen bald jeglicher patriarchalen Gewalt ausgesetzt sein.
Umfassendes Rechtsstaatlichkeitsprogramm
Abschließend heißt es in der Erklärung: „Folter und Misshandlung durch Sicherheitsbeamte sind in der Türkei schon seit langem weit verbreitet. Auch wurde die Türkei von internationalen Akteuren wiederholt dafür kritisiert, dass sie bei der Verfolgung von Demonstrationen den friedlichen Charakter der Versammlungen nicht berücksichtigt. Dies ist vor allem auf die fehlende Verurteilung von verantwortlichen Beamten und die Bereitschaft zurückzuführen, Vorwürfe zu vertuschen, anstatt sie zu untersuchen. Der Fall der Samstagsmütter ist ein Beispiel für die Kriminalisierung von friedlichen Protesten durch die Behörden.
Fünf Jahre nach dem Besuch des UN-Sonderberichterstatters über Folter erinnern wir die türkischen Behörden an die zehn Eckpunkte für eine Null-Toleranz-Politik gegenüber Folter und fordern dringende und wirksame Maßnahmen zu jedem dieser Punkte. Die Neuausrichtung der Anti-Folter-Agenda ist von entscheidender Bedeutung für ein dringend benötigtes umfassenderes Rechtsstaatlichkeitsprogramm für das Land. Die derzeitige Situation in der Türkei erfordert dringende Schritte zur Verhinderung von Folter und Misshandlung und zur Bekämpfung der Straflosigkeit. Unsere Organisationen werden gemeinsam mit der internationalen Gemeinschaft unser Engagement für eine ehrgeizige und glaubwürdige Anti-Folter-Agenda fortsetzen und auch weiterhin Foltervorwürfe melden und untersuchen, damit die Täter vor Gericht gestellt werden.“