Nur eine Lösung der kurdischen Frage bringt Rechtsgarantie für Gefangene

Der türkische Staat verweigert Abdullah Öcalan und tausenden weiteren politischen Gefangenen das Recht auf Hoffnung. Trotz Urteilen des EGMRs denkt das Regime in Ankara an keine Veränderung.

MEHMET NURİ DENİZ

Das „Recht auf Hoffnung“ für Gefangene kann juristisch aus der Menschenrechtskonvention abgeleitet werden. Artikel drei der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) verbietet erniedrigende Behandlung sowie Folter. Hieraus entspringt für Gefangene das Recht auf Hoffnung: Lebenslange Haftstrafen ohne realistische Möglichkeiten auf Überprüfung oder Entlassung können – so mehrfach das Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) – gegen Artikel drei der EMRK verstoßen.

Die Urteile des EGMR sind auch für die Türkei bindend. Obwohl er die Isolation Abdullah Öcalans 2014 verurteilte, verschärfte die Türkei das Haftregime ab 2015 weiter. Nach einer nunmehr über neunjährigen Totalisolation, wurden im Herbst 2024 neue Töne aus dem Regierungslager hörbar. Der Vorsitzende der ultranationalistischen Partei MHP, Devlet Bahçeli, sprach erstmals von der Option eines Weges für eine gesetzliche Regelung des „Rechts auf Hoffnung“ für Abdullah Öcalan. Er verband diese Möglichkeit mit der Bedingung, Abdullah Öcalan müsse zunächst kapitulieren und öffentlich die Auflösung der PKK bekannt geben. Dieses Signal wirft ein deutliches Licht auf den Zustand der Rechtsstaatlichkeit in der Türkei. Offensichtlich scheint die türkische Regierung ein international verbrieftes Recht als Druckmittel und Verhandlungsmasse zu betrachten.

Im ANF-Gespräch äußerte sich der Anwalt Mehmet Nuri Deniz zum „Recht auf Hoffnung“ in der Türkei. Er kritisierte, dass die Regierung mehr als zehn Jahre nach dem EGMR-Urteil noch immer nichts unternommen habe.

 

Die Verweigerung der Hoffnung auf Entlassung ist ein Rechtsbruch

Deniz wies darauf hin, dass die Todesstrafe in der Türkei Anfang der 2000er Jahre abgeschafft wurde. Damals wurde Öcalans Todesurteil in verschärfte lebenslängliche Haft umgewandelt. Deniz führte aus: „Diese Strafe wird bis zum Tod unter einem Sonderhaftregime in Isolation vollzogen. Der EGMR stellte in seinen Entscheidungen zu Klagen in diesem Punkt fest, dass es rechtswidrig sei, eine Person zu lebenslanger Haft ohne Hoffnung auf Entlassung zu verurteilen. Er entwickelte daraufhin eine neue Rechtsprechung zu diesem Thema. Das erste Urteil in dieser Frage war das Vereinigte Königreich gegen Vinter. In diesem Urteil definierte der EGMR das ‚Recht auf Hoffnung‘. Die Quintessenz dieses Urteils ist, dass es rechtswidrig ist, eine Person lebenslang zu inhaftieren, ohne dass sie Hoffnung auf Entlassung hat.“

Die Türkei will das Recht auf Hoffnung nicht umsetzen“

Am 18. März 2014 stellte der EGMR bezüglich der Inhaftierung Abdullah Öcalans fest, dass keine realistische Möglichkeit bestehe, diese Strafe jemals zu überprüfen oder eine Freilassung in Betracht zu ziehen. Er folgerte dementsprechend, dass die lebenslange Haftstrafe Öcalans gegen Artikel 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) verstoße. In dem Urteilsspruch hieß es: „Gefängnisse sollten nicht wie die Pforten der Hölle sein, wo die Worte Dantes Worte: ‚Ihr die ihr eintretet, lasst alle Hoffnung fahren‘ gelten. (…) Kläger verbüßt seit 1999 eine lebenslange Freiheitsstrafe ohne Bewährung. In dem im vorliegenden Urteil geprüften Zeitraum (Mai 2005 bis März 2012) wurde die lebenslange Freiheitsstrafe des Klägers mit äußerster Härte vollstreckt, wodurch die Rechte des Klägers aus den Artikeln 3 und 8 verletzt wurden.“ Artikel 8 der EMRK garantiert das Recht auf Kommunikation, Privatleben und Familie, und wird durch die Isolation Abdullah Öcalans gebrochen.

Zum EGMR-Urteil sagte Deniz: „Auf Antrag der Anwälte entschied der EGMR 2014, dass das ‚Recht auf Hoffnung‘ in Bezug auf Herrn Öcalan umgesetzt werden müsse. Obwohl seit dem Urteil viel Zeit vergangen ist, hat die Türkei keinerlei Schritte unternommen. Im Jahr 2021 setzte das Ministerkomitee des Europarats auf Antrag der Anwälte von Herrn Öcalan und zivilgesellschaftlicher Organisationen diese Entscheidung auf seine Tagesordnung und leitete ein Prüfverfahren gegen die Türkei ein. Dennoch hat die Türkei noch immer keine praktischen Schritte diesbezüglich unternommen. Das Prüfverfahren ist zwar noch offen, aber die Türkei scheint wenig daran interessiert zu sein, die Entscheidung des EGMR umzusetzen.“

Die Situation hängt mit der kurdischen Frage zusammen“

Mehmet Nuri Deniz wies darauf hin, dass die Türkei das Konzept des „Rechts auf Hoffnung“ als individuelles Recht juristisch nicht anerkenne: „Aus diesem Grund wird Herrn Öcalan das ‚Recht auf Hoffnung‘ nicht gewährt. Die Hauptgründe für die Nichtumsetzung des Urteils sind das Fehlen einer Lösung der kurdischen Frage, die Abkehr der Türkei von der Rechtsstaatlichkeit und das Fehlen eines demokratischen Verständnisses. Solange diese Probleme nicht gelöst sind, ist vollkommen klar, dass die Türkei das Verfahren nicht als juristische Frage betrachten wird und demnach nicht die Absicht haben wird, dieses Urteil umzusetzen. Die Änderung der politischen Konjunktur kann positive Entwicklungen mit sich bringen, denn der türkische Staat betrachtet Herrn Öcalan bezüglich seiner rechtlichen Situation nicht als Individuum, sondern im Kontext der ungelösten kurdischen Frage. Solange sich also die Einstellung der Türkei zur Kurdenfrage, zur Demokratie, zu den Menschenrechten und zur Rechtsstaatlichkeit nicht ändert, wird sich leider auch ihre Einstellung zu dieser Frage nicht ändern. Das ‚Recht auf Hoffnung‘ gilt auch für die 4.000 weiteren [lebenslänglichen politischen] Gefangenen als relevant. Damit dieses Recht von der Türkei im innerstaatlichen Recht anerkannt wird, muss der juristische, politische, diplomatische und soziale Kampf intensiv auf der Tagesordnung bleiben.“