Erneut polizeilicher Übergriff auf „Gerechtigkeitswache“

Die Istanbuler Mahnwache für kranke und politische Gefangene ist erneut von der Polizei drangsaliert worden. Eine HDP-Politikerin wurde vorübergehend festgenommen, zwei weitere Festnahmen konnten durch den Einsatz von Abgeordneten verhindert werden.

In Istanbul ist es erneut zu einem polizeilichen Übergriff auf die Mahnwache vor dem Justizpalast Çağlayan gekommen. Die Lokalpolitikerin Fatma Çatar, die Ko-Vorsitzende des Kreisverbands der HDP in Bahçelievler ist, wurde wegen vermeintlichen Verstoßes gegen das türkische Versammlungsgesetz festgenommen. Im Fall von zwei Beteiligten der Aktion konnte eine Festnahme durch die Intervention der HDP-Abgeordneten Züleyha Gülüm und Musa Piroğlu verhindert werden.

Die inzwischen fünfzehnte Woche halten Angehörige von politischen Gefangenen jeden Donnerstag vor dem Gerichtsgebäude im Istanbuler Stadtteil Şişli eine „Gerechtigkeitswache“ ab, um die Freilassung schwer Erkrankter und wegen fehlendem Reuebekenntnis trotz Vollendung ihrer Strafen weiterhin Inhaftierter zu fordern. Bei den Beteiligten handelt es sich überwiegend um Mütter, die um das Leben ihrer inhaftierten Kinder kämpfen. Seit die Initiative im April ins Leben gerufen wurde, ist nahezu jede Mahnwache von der Polizei angegriffen oder aufgelöst worden.

Züleyha Gülüm zeigte sich empört über den neuerlichen Übergriff. Die Polizei sei aufgefahren, um die Stimmen jener durch willkürliche Verbote zu unterdrücken, die das „Unrecht in den Gefängnissen“ und die „Folter an ihren Kindern“ anprangern wollten. Die Polizei unterbrach Gülüms Ansprache mit Verweis auf ein angebliches Demonstrationsverbot vor Ort.


Doppelte Standards

„Es herrschen doppelte Standards, Widersprüche und Heucheleien, sowohl innerhalb der Gefängnismauern als auch überall sonst“, kommentierte Gülüms Fraktionskollege Musa Piroğlu. Vor Beginn der heutigen Mahnwache hatte es vor dem Justizpalast Çağlayan zwei Kundgebungen gegeben, die ohne Zwischenfälle durchgeführt werden konnten. „Damit will man uns im Grunde nur sagen: ‚Wenn ihr gegen die Interessen der Regierung seid und sie in der Öffentlichkeit für ihr Vorgehen kritisiert, wenn ihr euch gegen Unterdrückung und Unrecht stellt, wenn ihr die HDP seid, dann gilt jegliches Handeln als verboten‘. Das werden wir nicht akzeptieren.“

Umgang mit Gefangenen „Spiegelbild gesellschaftlicher Verhältnisse”

Piroğlu bezeichnete den Umgang der Regierung mit kranken und politischen Gefangenen als „Spiegelbild gesellschaftlicher Verhältnisse” und machte dies am Beispiel von Aysel Tuğluk (56) und Mehmet Emin Özkan (84) deutlich. Beide wurden aus politischen Gründen heraus inhaftiert und leiden an diversen Krankheiten, darunter Demenz. Dennoch verweigern die türkischen Behörden ihre Haftentlassung. Im Fall des seit 1996 inhaftierten Özkan ist sogar durch ein Gericht festgestellt worden, dass er unschuldig ist. „In Anbetracht dieser Fakten ist es nur noch eine Frage der Zeit, bis sich die Aggression des Regimes nicht mehr lediglich gegen die HDP und andere demokratisch-politische Kreise richtet, sondern gegen alle Menschen in diesem Land kanalisiert”, warnte Piroğlu.