Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat die Türkei wegen der unrechtmäßigen Inhaftierung des Buchautoren und Verlegers Ragip Zarakolu verurteilt. Untersuchungshaft darf nur aufgrund eines begründeten Verdachts verhängt werden. Dem hat die Türkei nicht Genüge getan, wie die Richter in Straßburg am Dienstag entschieden (Urt. v. 15.09.2020, Az. 15064/12, Zarakolu v. Turkey).
Zarakolu, der zu den Gründern des türkischen Menschenrechtsvereins IHD (İnsan Hakları Derneği) zählt, war Ende Oktober 2011 im Rahmen der „KCK-Operationen“ festgenommen und später verhaftet worden. Aufgrund einer Rede, die er an der Bildungsakademie der Partei der demokratischen Regionen DBP (damals noch Partei des Friedens und der Demokratie, BDP) für die Verabschiedung der Absolvent*innen gehalten hatte, wurde der heute 72-Jährige der „Mitgliedschaft in einer terroristischen Organisation“ bezichtigt. Nach fast sieben Monaten in Untersuchungshaft wurde Zarakolu vorzeitig entlassen. 2013 verließ er das Land und lebt seitdem im schwedischen Asyl. Das Verfahren gegen ihn in der Türkei ist noch anhängig.
Vor dem EGMR wies Zarakolu alle Vorwürfe zurück. Er machte geltend, durch die Untersuchungshaft in Art. 5 Europäische Konvention für Menschenrechte (EMRK), der das Recht auf Freiheit und Sicherheit schützt, verletzt worden zu sein. Zudem sei er erst nach fünf Monaten einem Richter vorgeführt worden. Auch sieht Zarakolu sein Recht auf freie Meinungsäußerung, das Art. 10 der Menschenrechtskonvention gewährleistet, verletzt. Der EGMR gab Zarakolu in seinem heutigen Urteil vom Dienstag Recht. Die Anordnung von Untersuchungshaft setze voraus, dass ein hinreichender Verdacht bezüglich einer Straftat bestünde. Ein solcher sei jedoch von den türkischen Behörden nicht nachgewiesen worden. Auch sei Art. 5 Abs. 4 EMRK sowie verletzt, da nicht innerhalb kurzer Frist ein Richter über die Untersuchungshaft entschieden habe. Des Weiteren habe die Türkei auch gegen Art. 10 verstoßen. Staatliche Beschränkungen von Meinungsäußerungen seien nur zu rechtfertigen, wenn sie der Aufstachelung zur Gewalt dienten. Die Äußerungen Zarakolus an der Bildungsakademie der DBP hätten aber keine Hassrede enthalten oder zu Gewalt aufgerufen. Der EGMR hat die Türkei daher verurteilt, dem Menschenrechtler 6.500 Euro Schmerzensgeld zu zahlen.
KCK-Operationen
Die „KCK-Operation“ genannte Verhaftungswelle begann nur einen Tag, nachdem die KCK (Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans) am 13. April 2009 ihre Waffenruhe bis zum 1. Juli verlängert und in ihrer Deklaration davon gesprochen hatte, dass „zum ersten Mal die Möglichkeit besteht, die kurdische Frage in einem Umfeld der Waffenruhe zu lösen“. Die Operation, die mit der Verhaftung von Politiker*innenn und Vertreter*innen von NGOs begann, ergriff wellenförmig alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens und betraf auch Bürgermeister*innen, Gewerkschafter*innen, Journalist*innen, Verteidiger*innen der Menschenrechte und Rechtsanwält*innen. Am Ende der Operation im Jahre 2011 waren etwa 10.000 Menschen unter dem Verdacht der Mitgliedschaft in der KCK verhaftet worden.