In der westtürkischen Metropole Istanbul sind am Donnerstagabend dutzende Personen bei einer Demonstration festgenommen worden. Die Polizei ging teilweise gewaltsam vor und führte insgesamt 46 Ingewahrsamnahmen durch. Gegen alle Betroffenen, unter denen sich auch der Ko-Vorsitzende des Istanbuler HEDEP, Murat Kalmaz, sowie die Ko-Sprecherin des HEDEP-Jugendrats, Edanur Ibrahimoğlu, befanden, wurde Anzeige wegen eines angeblichen Verstoßes gegen das Versammlungs- und Demonstrationsgesetz Nr. 2911 erstattet. Nach einem Verhör auf der berüchtigten Polizeiwache Vatan und einer Gesundheitskontrolle wurden alle Festgenommenen wieder freigelassen. Sollte es allerdings zur Anklage kommen, würden nicht nur Geldstrafen, sondern auch Haftstrafen von bis zu drei Jahren drohen.
Zu der Demonstration im europäischen Stadtteil Şirinevler hatte ein breites Bündnis aus politischen Parteien und zivilgesellschaftlichen Organisationen aufgerufen, darunter der Verein für Solidarität mit den Angehörigen von Gefallenen aus Anatolien (ANYAKAYDER), die Partei HEDEP sowie deren Frauen- und Jugendräte, die Frauenbewegung TJA, Vereine der Gefangenensolidarität, das Kulturzentrum Mesopotamien (NÇM) und der Verein für kurdische Studien. Hintergrund des Protests war die Nekropolitik gegen die kurdische Bevölkerung. Die Demonstrierenden verurteilten den „menschenunwürdigen Umgang“ des türkischen Staates mit Gefallenen des Befreiungskampfes sowie die in Kurdistan stattfindenden Grab- und Leichenschändungen. Gefordert wurde ein Ende dieser Praxis und Respekt vor Toten und Hinterbliebenen.
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Das letzte Beispiel des Konzepts der Nekromacht über Kurdinnen und Kurden ist der Fall der Guerillakämpferin Menfiyat Elçiçek (Axîn Seydo), die bei einem Gefecht mit türkischen Operationseinheiten in Elkê (tr. Beytüşşebap) ums Leben gekommen ist. Seit ihrem Tod im September 2018 schöpften ihre Angehörigen alle rechtlichen Mittel aus, um den Leichnam zu erhalten, doch die Behörden blieben stur. Über fünf Jahre mussten vergehen, ehe die sterblichen Überreste von Elçiçek ihrer Familie übergeben wurden – ausgehändigt an die Mutter, in einer Pappschachtel. Dieser die gesellschaftlichen Werte erniedrigende Angriff weckt Traumata und erinnert an die Fälle der Kämpfer Agit Ipek (HPG) und Hakan Arslan (YPS), deren sterbliche Überreste ihren Angehörigen in Kisten beziehungsweise Tüten ausgehändigt worden waren.
Die türkische Nekropolitik
Der türkische Staat betrieb bereits seit den 1990er Jahren Nekropolitik gegen die kurdische Gesellschaft, indem er die Körper von Gefallenen instrumentalisierte. Leichen wurden verstümmelt, zerstückelt oder öffentlich zur Schau gestellt. Seit dem Abbruch des Friedensprozesses durch die türkische Regierung im Jahr 2015 hat eine neue Ära der Nekropolitik begonnen. Beerdigungen von Kämpfer:innen, an denen vor 2015 Tausende und oft sogar Hunderttausende teilnahmen, wurden durch massive Polizeieinsätze zu kleinen Veranstaltungen im Polizeikessel, an denen höchstens zehn Familienmitglieder teilnehmen können. Gleichzeitig werden die Leichen von Gefallenen häufig erst nach langen Fristen freigegeben. Die sterblichen Überreste werden oftmals auch in anonymen Gräbern beerdigt und müssen exhumiert werden, was eine weitere Schikane für die Familien darstellt. Der Staat geht jedoch noch weiter, indem er Pakete mit den Knochen von Gefallenen an die Angehörigen verschickt oder die Überreste einfach an unwürdigen Orten verscharrt. Die exemplarische Bestrafung endet nicht mit dem Tod. Das Vorgehen zielt darauf ab, den Widerstandsgeist der Gesellschaft zu brechen.