Die türkische Polizei hat abermals die Samstagsmütter auf dem Galatasaray-Platz in der Istanbuler Innenstadt angegriffen. Die Initiative wollte eine Erklärung zum „Verschwindenlassen“ in staatlichem Gewahrsam abgeben und eine Bestrafung der Täter fordern. Wie bereits in den Wochen zuvor kam es dabei erneut zu Festnahmen. Mindestens siebzehn Mitglieder und Unterstützende wurden abgeführt und auf ein nahegelegenes Revier gebracht. Unter ihnen befindet sich auch Eren Keskin, Ko-Vorsitzende des Menschenrechtsvereins IHD.
Presseleute gewaltsam vom Platz gedrängt
Der belebte Galatasaray-Platz vor dem gleichnamigen Gymnasium an der Einkaufsmeile Istiklal Caddesi war seit dem frühen Morgen weiträumig durch Barrieren und Gitter abgesperrt. Die Bereitschaftspolizei war mit einem Großaufgebot im Einsatz und nahm die Samstagsmütter und ihre Unterstützenden, darunter die Parlamentsabgeordneten Cengiz Çiçek, Sırrı Süreyya Önder und Kezban Konukçu (YSP), Turan Taşkın Özer und Ali Gökçek (CHP) sowie Ahmet Şık (TIP), in einen Kessel und verhinderte so, dass sich die Gruppe dem Platz nähern konnte. Medienschaffende wurden bei der Dokumentation des Polizeieinsatzes behindert und gewaltsam vom Platz gedrängt.
Mahnwachen seit Einführung des Präsidialsystems verboten
Die YSP-Abgeordnete Pervin Buldan, die zugleich Ko-Vorsitzende der HDP ist, protestierte gegen das Vorgehen der Polizei und verlas trotz Unterbindungsversuchen eine Stellungnahme. „Der Wunsch nach Gerechtigkeit lässt sich nicht verbieten“, betonte die Politikerin und erklärte: „Seit 28 Jahren machen wir von unseren Rechten Gebrauch, die sich aus Verfassung, Gesetzen und Konventionen ergeben, denen die Türkei beigetreten ist, um Gerechtigkeit und die Offenlegung des Schicksals der in der Haft verschwundenen Menschen zu fordern. 699 Wochen lang verschafften wir unseren Forderungen auf dem Galatasaray-Platz Gehör. Doch seit dem Übergang der Türkei in ein Präsidialsystem werden unsere Versammlungen durch Polizeigewalt verhindert. Dies geschieht, obwohl das Verfassungsgericht in mittlerweile zwei Urteilen eindeutig festgestellt hat, dass die Einschränkungen unserer Mahnwachen rechtswidrig sind. Die zehnte Woche in Folge wird den Samstagsmüttern der Zugang zu ihrem angestammten Kundgebungsort unterbunden, sie werden in Handschellen abgeführt und ohne jegliche Rechtsgrundlage in Gewahrsam gehalten.“
Verfassungsgericht: Sit-ins von Samstagsmüttern müssen respektiert werden
Die Polizei begründet die Unterbindung der Versammlungen der Samstagsmütter mit einem Versammlungsverbot, das vom örtlichen Landratsamt erteilt wurde. Laut Buldan würde die Behörde damit nationales Recht verletzen und sich über ein Urteil des höchsten Gerichts hinwegsetzen. „Die willkürlichen Einschränkungen unserer Rechte stellen gleichermaßen auch einen direkten Angriff auf die Glaubwürdigkeit des Verfassungsgerichts und die Menschenrechte dar, die das Verfassungsgericht schützen sollte. Außerdem zielt das Beharren auf diesem Verbot darauf ab, eine abschreckende Wirkung auf alle zu erzielen, die sich friedlich versammeln und ihre Forderungen zum Ausdruck bringen wollen. Ein System, das die Entscheidungen des Verfassungsgerichts und auch des europäischen Menschengerichtshofs nicht umsetzt, kann kein Vertrauen in Rechtsstaatlichkeit schaffen“, sagte Buldan.
951. Mahnwache der Samstagsmütter
Die Samstagsmütter fordern seit Jahrzehnten auf dem Galatasaray-Platz Auskunft über ihre seit den 1990er Jahren verschwundenen Angehörigen. Am heutigen Sonnabend waren sie zum 951. Mal auf der Straße. Seit einem massiven Polizeiübergriff im August 2018 ist die Kundgebung auf dem Platz verboten. Auf Anordnung des Innenministeriums wird jede Woche eine neue Verbotsverfügung für Zusammenkünfte der Gruppe herausgegeben. Neben Eren Keskin wurden auch Hanife Yıldız, Ikbal Eren Yarıcı, Maside Ocak, Hanım Tosun, Mikail Kırbayır, Ali Ocak, Gülseren Yoleri, Leman Yurtsever, Cihan Kaplan, Hatice Onaran, Fırat Akdeniz, Nazım Dikbaş, Ismail Yücel, Hünkar Hüdai Yurtsever, Arda Yüksel und Meryem Bars festgenommen. Ihnen allen droht nun eine Anzeige wegen Verstoß gegen behördliche Auflagen, die ohnehin rechtswidrig sind.