Emine Şenyaşar ist am Freitag von der Generalstaatsanwaltschaft Urfa (ku. Riha) vorgeladen worden. Hintergrund ist eine Anzeige des türkischen Innenministers Süleyman Soylu. Der AKP-Politiker behauptet, von der 70-jährigen Kurdin beleidigt worden zu sein. Rechtsanwalt Gökhan Dayık aus dem Verteidigerteam der Şenyaşars dagegen spricht von juristischer Schikane. Der Staat fahre eine „Strategie der Zermürbung und Einschüchterung“, um seine Mandantin und den Rest der Familie von ihrem Gerechtigkeitskampf abzubringen. „Die Vorwürfe des Innenministers hat sie bei der staatsanwaltlichen Vernehmung zurückgewiesen. Im Anschluss setzte sie ihre Mahnwache vor dem Justizpalast fort“, so Dayık. Zur formellen Anklageerhebung gegen Şenyaşar kam es betreffend der Anzeige des Innenministers aber noch nicht. Sollte es zu einem Prozess kommen, drohen der betagten Frau bis zu vier Jahre Gefängnis.
Etliche Male wurden Emine Şenyaşar und ihr Sohn Ferit bereits festgenommen, ihre seit 186 Tagen andauernde Mahnwache angegriffen oder aufgelöst. Auch wurden schon Meldeauflagen gegen die 70-Jährige angeordnet. Diese Woche hatte die oberste Staatsanwaltschaft in Riha dann auf Betreiben des AKP-Abgeordneten Ibrahim Halil Yıldız Anklage gegen Emine Şenyaşar erhoben. Auch dieser sieht sich von der Seniorin beleidigt und erstatte deshalb Anzeige. Das Perfide daran: Yıldız führte im Juni vor drei Jahren den Lynchmob an, der den Ehemann von Emine Şenyaşar und zwei ihrer Söhne in der Kreisstadt Pirsûs (tr. Suruç) tötete.
„Die Rechtspraxis schützt die Täter, nicht die Opfer“, kritisiert Gökhan Dayık. Ibrahim Halil Yıldız und dessen Mob aus mehr als 20 Leibwächtern und Verwandten hatten am 14. Juni 2018 Emine Şenyaşars Ehemann Hacı Esvet und die Söhne Adil und Celal vor laufenden Kameras brutal ermordet. Die Angriffe begannen im Familienbetrieb und setzten sich in einem Krankenhaus fort. Auch der Bruder von Yıldız wurde bei den Lynchmorden getötet, allerdings von seinen eigenen Leuten. Bislang wurde aber einer von rund zwei Dutzend Angreifern verurteilt – jedoch nur zu einer symbolischen Strafe von 18 Jahren. Demgegenüber ist ein anderer Sohn von Emine Şenyaşar, der das Massaker zudem überlebte, wegen Mordes zu knapp 38 Jahren Haftstrafe verurteilt worden, obwohl er nachweislich nichts getan hatte.
Geheimhaltungsverfügung über Akte zu Krankenhausmorden
Das Verfahren um den Tod von drei Mitgliedern der Familie Şenyaşar und den eines der Angreifer wurde in zwei Teile abgetrennt. Die Vorfälle im Laden wurden in Meletî (Malatya) verhandelt, die Geschehnisse in den Krankenhäusern sollen in Riha vor Gericht gebracht werden. Doch eine über die Ermittlungsakte bereits vier Tage nach den Morden verfügte Geheimhaltungsverfügung ist noch immer nicht aufgehoben worden, entsprechend wurde auch keine Anklage erhoben. Bisher konnte die Identität von 23 Personen, die sich an den Lynchmorden beteiligten, festgestellt werden. Dennoch wurde bisher keiner von ihnen festgenommen.