Zivilgesellschaftliche Aktivitäten in Qers eingestellt

Seit der Ernennung eines Zwangsverwalters in der bis dahin HDP-regierten Stadt Qers in Nordkurdistan ist ein Monat vergangen. Seitdem wurden insbesondere Fraueneinrichtungen geschlossen.

Von den 65 im März 2019 gewählten HDP-Kommunalverwaltungen noch insgesamt sechs erhalten geblieben. Das bedeutet, im Moment werden noch vier Kreisstädte und zwei Gemeinden von der Demokratischen Partei der Völker (HDP) regiert. Mit der Einsetzung eines Zwangsverwalters in der nordkurdischen Stadt Qers (türk. Kars) wurde die letzte HDP-Regierung in einer Provinzhauptstadt beendet.

Der Angriff auf die HDP in Qers begann mit der sogenannten „Kobanê-Operation”. Proteste aus dem Jahr 2014 wurden aus der Schublade gezogen, um unter anderem den Ko-Bürgermeister der Stadt, Ayhan Bilgen, festzunehmen und am 2. Oktober zu inhaftieren. Bilgen kam seiner Absetzung durch einen Rücktritt zuvor. Der Staat reagierte sofort und nahm auch die Ko-Bürgermeisterin Şevin Alaca binnen Stunden fest. Damit wurden in Qers 20 HDP-Mitglieder in diesem Rahmen festgenommen und 16 inhaftiert. Unter den Inhaftierten befinden sich nicht nur die Ko-Bürgermeister*innen, sondern auch mehrere Stadtratsmitglieder.

Vor der HDP gab es nicht einmal geteerte Straßen in Qers“

Die Provinzverbandsvorsitzende Sevda Subaşı sagt im Gespräch mit ANF: „Bevor die HDP die Stadtverwaltung in Qers übernahm, gab es nicht einmal geteerte Straßen. Es gab keine Pläne zur Erneuerung der Infrastruktur. Alles war geprägt von Korruption und wurde den persönlichen Interessen entsprechend verteilt. So gab es keinerlei Stadtentwicklung, insbesondere das Wasserleitungssystem war so veraltet, dass praktisch Gift aus den Leitungen kam. Das stellte eines der größten infrastrukturellen Probleme von Qers dar. Es gab außerdem keine einzige Fraueneinrichtung in der Stadt.“

Infrastrukturprobleme von Qers wurden von der HDP gelöst“

Über den Regierungsantritt der HDP berichtet Subaşı: „Durch die Arbeit von Ayhan Bilgen und Şevin Alaca wurde alles in Qers umgekrempelt. Das Müllproblem wurde gelöst und Qers wurde zu einer wirklich sauberen Stadt. Menschen, die zuletzt vor der Wahl der HDP in Qers gewesen waren und nun erneut dorthin kamen, waren regelrecht schockiert über die Veränderung. Aufgrund der verstopften Rohre stank es zuvor in der Stadt bestialisch. Auch dieses Problem wurde gelöst. Viele Ausschreibungen wurden neu und transparent durchgeführt. Es wurden Kooperativen eröffnet und diese insbesondere an Frauen übergeben. Es wurden viele Frauenkooperativen eingerichtet und viel unternommen, um traditionelle Produkte aus Qers populär zu machen. Das Frauensolidaritätszentrum eröffnete das ‚Lila Café‘, in dem nur Produkte von Frauen verkauft wurden. Dies stellte einen wichtigen Schritt für die zuvor in der Stadt vollständig ignorierten Frauen dar.“

Trotz aller Hindernisse“

Als die HDP die Stadtverwaltung übernahm, war sie mit etwa 400 Millionen Lira verschuldet. Dennoch konnte viel erreicht werden, sagt Subaşı und erläutert, dass sofort mit der Ausbesserung der Wege begonnen wurde. Auch das Wasserproblem sei angegangen und gelöst worden. „Es mag wie ein kleines Problem klingen, wenn man diese Dinge beschreibt. Aber diese Stadt ist klein, diese Probleme sind sehr grundlegend und ihre Lösung war absolut notwendig für die hier lebenden Menschen. Qers ist auch eine kosmopolitische Stadt. Die HDP bemühte sich nach der Übernahme der Regierung niemanden zu bevorzugen und nicht nach ethnischer, kultureller und religiöser Identität zu unterscheiden.

In der Stadtverwaltung von Qers arbeiteten früher 970 Personen. Die Kapazität der Stadtverwaltung liegt aber bei 370. Viele der übrigen waren alleine angestellt, um abzukassieren. Etliche waren nur auf dem Papier angestellt und haben einfach Geld erhalten, diese wurden entlassen“, so Subaşı.

Alles, was für Frauen erreicht wurde, ist zerstört worden“

Nach der Einsetzung des Zwangsverwalters wurden alle demokratischen und zivilgesellschaftlichen Aktivitäten eingestellt: „Nachdem der Zwangsverwalter eingesetzt worden war, wurden alle von der HDP eröffneten Kooperativen, Räte und sogar der Stadtrat aufgelöst. In Stadtvierteln, die teilweise seit sieben Jahren keine Dienstleistungen erfahren hatten, standen Straßen- und Infrastrukturausbauprojekte direkt vor dem Abschluss. Nun tut der Zwangsverwalter so, als wäre das seine Leistung. Das Frauensolidaritätszentrum der Stadtverwaltung und das ‚Lila Café‘ wurden geschlossen. In der Stadtverwaltung gab es Psychologinnen und Soziologinnen, die sich insbesondere mit den Bedürfnissen von Frauen beschäftigten. Auch ihre Arbeit wurde gestoppt. Unser Frauensolidaritätszentrum war vor etwa sechs bis sieben Monaten eröffnet worden und etwa 400 Frauen haben sich in dieser Zeit hilfesuchend an uns gewandt. Ein Teil wegen Gewalterfahrungen, ein Teil wegen ökonomischer Probleme und manche brauchten auch psychologische Unterstützung. Sie alle wurden versorgt. Mit allen wurde gesprochen und es wurde versucht, ihre Probleme zu lösen. Der Frauenhandarbeitsmarkt musste bereits wegen der Pandemie geschlossen werden. Alle Produkte, die auf dem Markt verkauft werden sollten, vergammeln jetzt in den Depots. Das ‚Lila Café‘ sorgte für ein Tageseinkommen, aber das gibt es nun auch nicht mehr. Alle Arbeiten der HDP-Stadtverwaltung im Frauenbereich wurden eingestellt. Es ist sehr schwer für Frauen in Qers, ökonomisch unabhängig zu werden. So befinden sie sich in der Hand der Männer. Deswegen wurde hier nicht nur die Stadtverwaltung vom Regime geraubt, sondern auch der Wille, die Arbeit und die Freiheit der Frau.“

Alle sind wütend“

Die erste Amtshandlung des zum Zwangsverwalter eingesetzten Gouverneurs von Qers war es, vor dem Rathaus die Eroberungssure zu verlesen. Subaşı kommentiert: „Er führt sich auf wie ein Eroberer. Aber dieser Ort wird nicht durch Eroberung, sondern durch den Willen des Volkes gewonnen. Wenn wir mit den Menschen in Qers sprechen, dann sind nicht nur die HDP-Anhänger wütend. Auch die Anhänger von AKP und MHP sehen das Unrecht. Alle sagen, dass nicht nur Ayhan Bilgen und Şevin Alaca, sondern auch die HDP die Wahlen hier durch verdiente Arbeit gewonnen haben und diese Behandlung nicht rechtmäßig sei.“