Wir treffen in den kurdischen Bergen Nujiyan Bagok. Sie gehörte zur letzten Gruppe, die im Kampf um die nordkurdische Stadt Nisêbîn (Nusaybin) nach 80 Tagen Widerstand abzog. Der türkische Staat hatte am 14. März 2016 eine Operation mit Luftunterstützung und allen Mitteln des Spezialkriegs auf die Stadt begonnen. Nujiyan Bagok, die jetzt als Guerillakämpferin den Bergen ist, berichtete uns als Augenzeugin dieses Kampfes.
Dem Vernichtungsfeldzug Einhalt gebieten
Nujiyan Bagok ist davon überzeugt, dass den Angriffen und der Vernichtungspolitik in Nordkurdistan, die 2015 von Neuem eingesetzt hatten, Einhalt geboten werden musste. Deswegen sei ein großangelegter Widerstand notwendig gewesen. Nujiyan selbst befand sich seit 2015 in Nisêbîn.
Zuerst Steine und Molotow-Cocktails
Sie erzählt, dass sie zunächst in den Vierteln Barrikaden bauten und hinter den Barrikaden Gräben aushoben. Dann bauten sie, um sich während der Kämpfe sicher bewegen zu können, Tunnel zwischen den Straßen. Die Vorbereitungen und der Tunnelbau gingen bis März weiter. In der ersten Zeit wurden die türkischen Sicherheitskräfte nur mit Steinen und Molotow-Cocktails am Eindringen in die Viertel gehindert. „Aber als der Feind dann mit aller Technik begann, unsere Viertel anzugreifen, waren wir gezwungen, auch Waffen zur Verteidigung einzusetzen“, sagt Nujiyan.
„Wir wussten, dass Nisêbîn angegriffen wird“
In Cizîr, Sûr, Şirnex und anderen kurdischen Städten fand ein entschlossener Widerstand statt. Nach dem Massaker von Cizîr, bei dem Hunderte Menschen ums Leben kamen, war den Menschen in Nisêbîn klar, dass es nun gegen sie gehen würde, sagt Nujiyan und erinnert sich: „Aber wir wollten uns um keinen Preis beugen. Wir sind den Angriffen des Feindes gemeinsam mit der Bevölkerung begegnet. Unsere Aktionen entwickelten sich weiter. Wir griffen den Feind in seinen Gebieten an und zogen uns dann in unsere Gebiete zurück. Wenn ein feindlicher Angriff kam, verteidigten wir unsere Gebiete, unsere Viertel. So ging es bis in den März weiter. Am 13. März verhängte der Staat eine Ausgangssperre über Nisêbîn. Wir hielten die Stadtviertel Koçeran, Gelhat, Alika, Kışla und Kanika. Der Feind griff zunächst alle Viertel außer Kanika an. Er unterbrach die Wasser- und Stromversorgung. Dann griff er mit Mörsern und Haubitzen an.“
Das „Nusaybin-Syndrom“ und der Widerstand
Nujiyan und ihre Mitstreiter*innen wurden nicht nur von den neuaufgestellten Spezialeinheiten der Jandarma und der Polizei, sondern auch von Milizionären aus Syrien angegriffen: „Trotz der Massivität der Angriffe war der Widerstand unter dem Kommandanten Şehîd Kawa massiv, die Angreifer erlitten das ‚Nusaybin-Syndrom‘. Das türkische Militär begann eine Niederlagenpsychologie unserem Widerstand gegenüber zu entwickeln. Es fürchtete sich vor uns kurdischen Kämpfer*innen. Der türkische Staat fing daher an, die Stadt aus Kampfflugzeugen zu bombardieren.
„Der Widerstandskommandant Xebatkar“
Nujiyan spricht von den verschiedenen Gefühlen im Widerstand von Nisêbîn, von einer Mischung aus Rache, Freiheit, Leidenschaft und Moral und kommt dabei auf den Kommandanten Xebatkar zu sprechen: „Xebatkar war selbst ein richtungsweisendes Beispiel, das Moral und Motivation schuf. Insbesondere wurden wir durch Verbundenheit Xebatkars mit der Partei und den Gefallenen motiviert. Als der Rückzug entschieden wurde, war Xebatkar sowohl am Bein als auch am Rücken verletzt. Am Abend des ersten Tages nach der Entscheidung hieß es, alle sollten sich ausruhen. Obwohl Xebatkar verletzt war, sagte er: ‚Schlaft ihr, ihr müsst morgen schauen, wie wir aus der Stadt herauskommen. Deswegen müsst ihr euch ausruhen.‘ Er übernahm die Wache in der ganzen Nacht allein. Da er uns mit seiner Verletzung nicht zur Last fallen wollte, wollte er sich selbst opfern, um den vier Freunden an seiner Seite das Leben zu retten.“
Der Rückzug
Am Ende des Widerstands von Nisêbîn waren noch 35 Personen übrig, die sich verschanzt hatten. Nujiyan berichtet über diese Zeit: „Die Freund*innen im Viertel Alika hatten einen Weg gefunden und die Berge, die Guerilla erreicht. Da sie von uns keine Nachricht erhalten hatten, schickten sie zwei Freunde in unser Viertel und sagten, wir sollten uns zurückziehen. Als erste Gruppe brachen sechs Freund*innen auf. Von dieser Gruppe erreichten zwei die Berge. Wir blieben mit 13 Freund*innen zurück. Der Feind hatte wieder eine Ausgangssperre verhängt und wollte erneut das Viertel einnehmen. Dabei kam es zu einem Gefecht am Eingang der Stadt zwischen unserer Gruppe und den feindlichen Kräften. Einige von uns sind gefallen, manche sind verletzt in Gefangenschaft geraten, aber einige konnten das Gefecht nutzen und die Berge erreichen. Wir waren die letzte Gruppe, welche die Stadt verließ. Wir überwanden die Umzingelung durch den Feind und kamen in die Berge, um die Geschichte des monatelangen Widerstands von Nisêbîn weiterzutragen.“