Löwy: Öcalans Denken bietet eine radikale politische Alternative

Michael Löwy gilt als einer der bedeutendsten Vertreter des libertären Marxismus. Mit ANF sprach der Philosoph über seine Eindrücke aus Amed, die Rolle Abdullah Öcalans im Friedensprozess mit der Türkei und das Projekt Rojava als Inspirationsquelle.

Über die politische Sprengkraft eines neuen Gesellschaftsentwurfs

Abdullah Öcalan, Gründungsfigur der PKK und seit über zwei Jahrzehnten in der Türkei inhaftiert, gilt heute als einer der einflussreichsten politischen Denker der kurdischen Bewegung. Seine Theorie des Demokratischen Konföderalismus stellt eine bewusste Abkehr vom klassischen Marxismus-Leninismus dar – zugunsten eines antikapitalistischen, ökologischen und feministischen Gesellschaftsmodells.

Der marxistische Soziologe und Philosoph Michael Löwy, bekannt für seine Arbeiten zu libertärem Marxismus und Ökosozialismus, sieht in Öcalans Ansatz eine der innovativsten politischen Alternativen der Gegenwart. Nach einem Besuch in Amed (tr. Diyarbakır) im Rahmen des Erinnerungsprojekts „Vergangenheit ist Zukunft“ sprach Löwy mit ANF über seine Einschätzungen zum neuen kurdisch-türkischen Dialogprozess, zur Bedeutung Öcalans als unverzichtbarem Akteur, und zur Relevanz des kurdischen Modells für emanzipatorische Bewegungen weltweit.

Sie haben kürzlich im Rahmen des Projekts „Geçmiş Gelecektir“ die Stadt Amed besucht und an mehreren Konferenzen teilgenommen. Wie beurteilen Sie auf Grundlage Ihrer Eindrücke vor Ort die neu aufgenommenen Friedensgespräche zwischen dem türkischen Staat und der PKK?

Während meines Besuchs in Diyarbakır vor wenigen Wochen konnte ich in Gesprächen mit Vertreter:innen der kurdischen Linken eine große Hoffnung in Bezug auf den neu initiierten Friedensprozess wahrnehmen. Es besteht die Erwartung, dass dieser Schritt tatsächlich eine neue Ära einläuten könnte. Zugleich zeigen sich jedoch deutliche Vorbehalte – insbesondere hinsichtlich fehlender konkreter Signale seitens der Erdoğan-Regierung.

Bislang wurden keinerlei substanzielle Maßnahmen eingeleitet. Kurdische politische Gefangene, darunter prominente Persönlichkeiten wie Selahattin Demirtaş, befinden sich weiterhin auf Basis absurder Anklagen in Haft. Viele Amtsenthebungen wurden nicht rückgängig gemacht. Die kurdische Bevölkerung erwartet von der Regierung glaubhafte Schritte, die auf eine tatsächliche Veränderung hindeuten.

Nach Abdullah Öcalans historischem „Aufruf für Frieden und eine demokratische Gesellschaft“ hat die PKK auf ihrem 12. Kongress weitreichende Beschlüsse gefasst – bis hin zur Bereitschaft zur Selbstauflösung. Wie bewerten Sie diese Entwicklungen?

Die PKK hat sich, meines Erachtens, Öcalans Appell angeschlossen – was auch kaum überrascht, da er als Gründungsfigur, ideologischer Kopf und historischer Anführer eine zentrale Autorität darstellt. Die Organisation hat ihre Bereitschaft erklärt, die bewaffneten Aktivitäten einzustellen und sich perspektivisch aufzulösen – allerdings nur unter der Bedingung gewisser Garantien.

Konkret geht es darum, eine gesellschaftliche und politische Teilhabe innerhalb der Türkei auf legalem Wege zu ermöglichen. Diese Garantien fehlen bislang. Die PKK hat in meinen Augen zu Recht erkannt, dass eine Fortsetzung des bewaffneten Kampfes unter den gegenwärtigen Bedingungen nicht zielführend ist. Es wäre jedoch wenig sinnvoll, die Organisation ohne entsprechende Zusagen aufzulösen, wenn demokratisches Engagement weiterhin unterbunden bleibt. Ihre Forderung nach Sicherheit und Rechten erscheint daher vollkommen nachvollziehbar.

Michael Löwy bei einer Veranstaltung in Amed mit dem Titel „Die Gesichter der Philosophie – Workshop zum kulturellen Gedächtnis“ © MA

Die Erklärung, sich von der bewaffneten Praxis zu verabschieden, halte ich für glaubwürdig. Ich sehe nicht, dass die PKK weiterhin militärische Konfrontationen anstrebt – aber sie wird kaum einseitig auf Gewalt verzichten, ohne dafür auf der Gegenseite konkrete politische Schritte zu sehen. Bislang gibt es solche Anzeichen nicht. Politische Gefangene bleiben in Haft.

Insofern kann man sagen: Der Auflösungsprozess der PKK ist möglicherweise eingeleitet worden – aber er wird sich über längere Zeiträume hinweg entwickeln, nicht in wenigen Tagen vollziehen.

Wie sollte man die neue Dialogbereitschaft des türkischen Staates gegenüber der PKK interpretieren? Welche Verantwortung trägt die Regierung für einen gelingenden Friedensprozess?

Die Motive der türkischen Regierung für diesen Kurswechsel sind nicht eindeutig zu bestimmen. Möglicherweise hat man eingesehen, dass die jahrzehntelangen Versuche, die kurdische Bewegung zu unterdrücken, gescheitert sind. Eventuell möchte die Regierung ihren internationalen Ruf verbessern und sich als demokratische Kraft präsentieren, die die kurdische Frage zu lösen vermag.

Ein weiterer Beweggrund könnte darin bestehen, die sich abzeichnende Annäherung zwischen der kemalistischen CHP und der DEM-Partei zu untergraben. Durch eine Spaltung dieser oppositionellen Kräfte ließe sich der innenpolitische Druck möglicherweise reduzieren. Die DEM-Partei hat sich bisher nicht auf dieses Spiel eingelassen – sie bleibt in der Kritik an der Repression gegenüber der Opposition, etwa im Fall der Inhaftierung von Ekrem Imamoğlu.

Allerdings beschränkt sich die Regierung weiterhin auf bloße Rhetorik. An der politischen Praxis hat sich bislang nichts verändert: Demokratisch gewählte kurdische Bürgermeister:innen wurden abgesetzt und durch staatliche Zwangsverwalter ersetzt. Diese Personen konnten ihr Amt bis heute nicht wieder aufnehmen. Auch die politischen Gefangenen bleiben hinter Gittern.

Es handelt sich also nicht nur um ein sprachliches Problem, sondern auch um das Fortbestehen autoritärer Maßnahmen. Insofern ist der Friedensprozess bislang nicht mehr als ein vages Versprechen – auf Regierungsebene fehlt es an konkreten Handlungen.

Die aktuelle Entwicklung verdeutlicht einmal mehr die zentrale Rolle von Abdullah Öcalan als Schlüsselakteur in der Lösung der kurdischen Frage. Wie bewerten Sie seine Rolle und seine Ideen?

Es ist bemerkenswert, dass Öcalan trotz seiner seit über 26 Jahren andauernden Isolationshaft eine derart zentrale Rolle bewahren konnte. Dies lässt sich zum einen durch seine historische Verbindung zur Bewegung erklären, zum anderen aber auch durch die originelle und kohärente Theorie, die er entwickelt hat. Diese wurde von der Bewegung rezipiert, weiterentwickelt und in praktisches politisches Handeln überführt.

Öcalans Denken konkretisiert sich insbesondere in den von kurdischen Kommunalverwaltungen getragenen politischen Praktiken in der Türkei sowie im Projekt Rojava in Nordsyrien. Dort wird ein Modell einer demokratischen, multiethnischen Konföderation erprobt. Ein zentrales Element seiner Theorie ist die Rolle der Frauen: Seine historisch-gesellschaftliche Analyse verleiht der Geschlechterfrage einen eminenten Stellenwert – Gleichberechtigung und die Überwindung patriarchaler Strukturen bilden eine tragende Säule seines Denkens. Diese Perspektive prägt sowohl die kurdische Bewegung in der Türkei als auch, in noch ausgeprägterer Weise, das gesellschaftliche Experiment in Rojava.

Als antikapitalistischer Denker – halten Sie das von Öcalan entwickelte Paradigma für eine reale Alternative?

Ich halte Öcalans Konzept für einen bemerkenswerten Versuch, eine alternative Form gesellschaftlicher und politischer Organisation zu entwerfen – eine, die zugleich sozialistisch, ökologisch und feministisch ausgerichtet ist. Natürlich sind die Rahmenbedingungen in Rojava äußerst schwierig, was die vollständige Umsetzung dieser Vision erschwert. Dennoch wirkt diese Idee weiter inspirierend auf viele revolutionäre Aktivist:innen, die sich mit dem Projekt identifizieren.

Aus dieser Perspektive gehört Rojava – gemeinsam mit der zapatistischen Bewegung in Chiapas – zu den spannendsten gegenwärtigen politischen Erfahrungen weltweit.

Wie beurteilen Sie als marxistischer Theoretiker die Kritik Öcalans und die der PKK an Marx beziehungsweise dem klassischen Marxismus-Leninismus?

Ich selbst verstehe mich als Marxist, genauer gesagt als „libertärer Marxist“, der viele Ideen aus dem Anarchismus produktiv aufnimmt. Insofern empfinde ich große Sympathie für Murray Bookchin, auf dessen Werke sich Öcalan stark stützt. Auch die Betonung ökologischer Fragen als grundlegender Bestandteil eines postkapitalistischen Projekts teile ich. Ebenso halte ich Öcalans feministischen Ansatz – insbesondere die Forderung, dass Frauen eine zentrale Rolle in gesellschaftlichen Transformationsprozessen spielen und patriarchale Machtstrukturen radikal überwunden werden müssen – für äußerst bedeutsam.

All diese Aspekte schätze ich sehr. Ich selbst vertrete einige ergänzende Ideen, etwa in Bezug auf eine ökosozialistische Planwirtschaft, die sich in gewissen Punkten von den Ansätzen Öcalans oder der Praxis in Rojava unterscheiden mag. Aber ich beanspruche keineswegs, alle Antworten zu haben. Trotz aller Schwierigkeiten stellt Rojava, wie gesagt, eines der relevantesten politischen Experimente der Gegenwart dar – ohne dass dies im Widerspruch zu meinem marxistischen Selbstverständnis steht.

Sie haben die Bedeutung des Rojava-Modells hervorgehoben. Sollte dieses System, das sich auf Öcalans Ideen stützt, auch für andere soziale und politische Bewegungen weltweit als Inspirationsquelle dienen?

Ja, ich denke auf einer allgemeinen Ebene ganz eindeutig: Der radikale Bruch mit patriarchalen Strukturen, die Forderung nach absoluter Gleichstellung der Geschlechter und die konsequente gleichberechtigte Teilung aller Aufgaben zwischen Frauen und Männern – das sind Prinzipien, die weltweit Gültigkeit haben sollten.

Ob multinationale Konföderationen das Nationalstaatsmodell global ersetzen können, bleibt eine offene Frage. Es handelt sich um eine interessante Hypothese, über die sich nachzudenken lohnt. Ich bin in dieser Frage nicht dogmatisch, sehe aber in Öcalans – wie auch Bookchins – Idee, dass Ökologie ein konstitutives Element jeder antikapitalistischen Alternative sein muss, ein zentrales Argument. Diese Perspektive sollte allgemein zugänglich gemacht und weitergetragen werden.


Über Michael Löwy

Michael Löwy, geboren 1938 in São Paulo, ist ein französisch-brasilianischer Soziologe, Philosoph und einer der international renommiertesten Vertreter des libertären Marxismus. Er lehrte am Centre National de la Recherche Scientifique (CNRS) in Paris und veröffentlichte zahlreiche Werke zu Marxismus, Religion, Ökologie und sozialen Bewegungen. Löwy beschäftigt sich intensiv mit alternativen Gesellschaftsmodellen jenseits des Kapitalismus – insbesondere mit Ökosozialismus, Feminismus und Basisdemokratie. Seine Schriften wirken weit über akademische Kontexte hinaus in soziale Bewegungen und Debatten. Er gilt als einer der frühen westlichen Intellektuellen, die sich intensiv mit Abdullah Öcalans Denken auseinandergesetzt haben.