Bayik: Gesellschaft in Nordsyrien muss sich auf Krieg vorbereiten

Cemil Bayik beschreibt den türkischen Staat mit seinem expansiven Charakter als Grundproblem für den Mittleren Osten und sagt: „Der türkisches Staat stellt nicht nur für die Kurden, sondern für alle eine Gefahr dar.“

Laut dem Ko-Vorsitzenden des Exekutivrats der KCK (Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans), Cemil Bayik, greift der türkische Staat die kurdische Freiheitsbewegung an, weil diese ein Bollwerk gegen seine kurdenfeindlichen Ziele darstellt. Der Angriffe seien allerdings nicht alleine gegen PKK gerichtet. Zwar versuche die Türkei ihre Aggression dadurch zu legitimieren, indem sie die Präsenz der PKK in Südkurdistan anprangert und Nordsyrien als eine Bedrohung für den eigenen darstellt. Dies entspreche allerdings nicht der Wahrheit. So fragt Bayik: „Ist die PKK denn auch im östlichen Mittelmeer oder in Libyen präsent?“

ANF sprach mit Cemil Bayik über die aktuellen Entwicklungen. Wir geben hier übersetzte Auszüge aus dem Interview wieder.

Für Bayik ist klar, dass  das AKP-MHP-Bündnis mit seinem großtürkischen Selbstverständnis nicht ohne Krieg überleben kann: „Die Haltung gegenüber der kurdischen Bevölkerung hat sich nicht geändert. Sie werden weiterhin eine schmutzige Politik gegen die Kurden praktizieren und ihre Besetzung und Massaker fortsetzen. Die Unterdrückungspolitik der Völker in der Türkei wird ebenso weitergehen. Deshalb wollen sie alles, was den Namen ‚Kurde‘ oder ‚Kurdistan‘ trägt, vernichten, den Nationalstaat neu aufbauen, osmanisches Territorium rückerobern und ein weiteres Mal die im Nationalpakt gezeichneten Grenzen erreichen. Dafür führen sie im Mittleren Osten Krieg und versuchen so ihre Position in der Region zu stärken. Am 23. Juni (bei den Wahlen) haben sie einen schweren Schlag erlitten. Daraufhin haben sie den Krieg zur Grundlage ihrer Politik gemacht, um ihre Schwäche zu verbergen, die demokratischen Kräfte lahmzulegen und selbst an der Macht zu bleiben.

Das Problem ist nicht die PKK

Der türkische Staat versucht sein Ziel zu erreichen, indem er behauptet: ‚Wir haben nichts gegen Kurden, wir sind gegen die PKK und nur sie bekämpfen wir.‘ Die Spaltung der Kurden war schon immer eine entscheidende Taktik des türkischen Faschismus. Der türkische Faschismus zielte in seiner ganzen Geschichte darauf ab, die Kurden zu vernichten. Diejenigen kurdischen Akteure, die an der Seite von Erdoğan und Bahçeli stehen, sollten dies genau wissen. Sie richten sich gegen sich selbst, ihr eigenes Volk, nicht die PKK. Sie schulden dem türkischen Staat nichts und sie müssen ihm nicht dienen. Die Türkei stützt sich nicht nur auf den Hass gegen die Kurden aus dem Norden oder die PKK, sie richtet sich gegen das gesamte kurdische Volk. Das zeigt die Realität in Südkurdistan und Rojava deutlich. Manche Kurden in Rojava und Südkurdistan sagen: ‚Das ist richtig, der türkische Staat greift an, weil die PKK hier ist. Wenn es die PKK nicht gäbe, dann würden solche Angriffe nicht stattfinden.‘ Diejenigen, die so denken, möchte ich auf die Situation in Libyen und dem östlichen Mittelmeer hinweisen. In Libyen gibt es keine PKK, aber jeder weiß, dass die Türkei die Ursache der dortigen Probleme ist. Daher geht es nicht um die Anwesenheit der PKK. Die PKK verteidigt die Würde des kurdischen Volkes. Deswegen greift die Türkei an. Die Türkei greift die PKK stellvertretend für alle Kurden an. Die Kurden sollten dies sehen und sich nicht in den Dienst des faschistischen türkischen Staats stellen.

Für alle gefährlich

Die Türkei spricht aktuell von einem ‚Friedenskorridor‘. Im Moment leben die Völker in Nord- und Ostsyrien in Geschwisterlichkeit. Sie wollen ihre eigenen demokratischen Systeme schaffen und entwickeln. Die Türkei ist ein Feind von Demokratie und Freiheiten. Sie ist ein Feind der Geschwisterlichkeit und der Völker. Die Türkei hat ihren eigenen Plan entworfen und agiert dementsprechend. Die Grundlage dieses Planes ist die Frage, wie die Kurden am besten zu spalten sind, wie man die Kurden im Norden von denen im Süden und denen in Rojava trennen kann. Im Rahmen dieses Planes sollen die Kurden vertrieben und von der Türkei als genehm empfundene Menschen angesiedelt werden.

Wir müssen das Ziel genau verstehen

Wenn die Türkei immer wieder davon spricht in Nordsyrien einmarschieren zu wollen, dann sagt sie auch: ‚Wir werden diese Region in Stücke schlagen und unsere aus Syrien in die Türkei gekommenen Flüchtlinge dort ansiedeln.‘ Gleichzeitig plant sie, ihre eigenen Milizen dort zu stationieren. Wie das umgesetzt wird, können wir am Beispiel Efrîns sehen. Das kurdische Volk muss diese Realität genau verstehen und ihr sich mit all seinen Möglichkeiten entgegenstellen. Die Völker Nordsyriens müssen das Ziel der Türkei ebenfalls genau verstehen. In diesem Sinne müssen die Völker der Region ihre Geschwisterlichkeit weiter konkretisieren und durch ihre Organisierung den Kampf weiterentwickeln.

Bereitet euch auf den Widerstand gegen die Besatzung vor

Es ist nun notwendig, Selbstverteidigungskräfte gegen eine türkische Invasion, zur Verteidigung und zur Sicherheit aufzubauen. Wenn dies nicht geschieht, besteht große Gefahr. Es sieht nicht so aus, als werde in naher Zukunft für Frieden in Syrien gesorgt. Im Mittleren Osten tobt der Dritte Weltkrieg und er geht weiter. Dieser Krieg kann sich noch weiter ausweiten. Deshalb geht es gerade nicht um die Frage einer friedlichen Lösung. Niemand sollte sich an eine solche Hoffnung klammern und sich selbst betrügen. Daher sollten sich sowohl die Gesellschaft von Nordsyrien, als auch die Verteidigungskräfte auf einen Krieg vorbereiten. Die Verteidigung muss in jeder Hinsicht ausgebaut werden. Das ist es, was geschehen muss. Es gibt keinen anderen Weg, um die Invasion durch die Türkei zu verhindern.

Sie planen Schlimmeres als in Efrîn

Die Koalition, Russland und Syrien müssen diese Realität begreifen. Die arabischen Völker müssen dies ebenfalls begreifen. Die Kurden müssen sich gemeinsam mit den Arabern mutig der türkischen Invasion entgegenstellen. Der türkische Staat will einen Keil zwischen die kurdische und die arabische Bevölkerung schlagen. Sie wollen einige Milizengruppen und mit ihnen kooperierende Araber zur Besetzung von Nord- und Ostsyrien benutzen. Sie sagen, Orte wie Girê Spî, Şêxler und Serêkaniyê seien kein kurdisches Land sondern arabischer Boden. Wir werden dort die Araber, die zu uns geflüchtet sind, ansiedeln.‘ Sie wollen das, was sie in Efrîn getan haben, dort wiederholen. Jeder weiß, was der türkische Staat und seine Milizen den Völkern in Efrîn angetan haben. Jeder sieht, wie vor allem die Kurden, aber auch alle anderen Völker unterdrückt werden. Wenn die Türkei in Nordsyrien einmarschiert, wird es schlimmer als in Efrîn werden. Das muss jeder begreifen. Deswegen müssen alle Möglichkeiten darauf verwendet werden, den Widerstand dagegen zu stärken.“