Der türkische Staat bedroht mit seinem Festhalten an einer 32 Kilometer breiten Besatzungszone die Sicherheit von Nord- und Ostsyrien. Erdoğan hat erneut einen Einmarsch in der Region angekündigt. Die autonome Verwaltung von Nord- und Ostsyrien strebt eine Verhandlungslösung an und bietet eine Überwachung der Grenze durch Streitkräfte der internationalen Koalition in einer fünf Kilometer breiten Zone unter Kontrolle lokaler Kräfte an, aus der die YPG/YPJ abgezogen werden könnten. Dort sollen außerhalb der Städte Patrouillen stattfinden, an denen auch unbewaffnete türkische Beobachter teilnehmen könnten. Im Gegenzug müsse den Vertriebenen aus Efrîn das Recht zugestanden werden, in ihre Heimat zurückkehren zu können.
Städte entlang der Grenze würden in Besatzungszone liegen
In der Region Nord- und Ostsyrien leben Kurd*innen, Araber*innen, Suryoye, Armenier*innen, Ezid*innen, Turkmen*innen, Tscherkess*innen und Tschetschen*innen. Viele der großen Städte unter der autonomen Verwaltung, wie Derik, Tirbespîyê, Qamişlo, Amûde, Serekaniyê, Dirbesîyê, Girê Spî, Kobanê und Minbic, würden in einer als „Sicherheitszone“ deklarierten Besatzungszone liegen, sollten die Vorstellungen der Türkei umgesetzt werden.
Die Nachrichtenagentur ANHA sprach mit Newroz Ehmed aus der Generalkommandantur der Demokratischen Kräfte Syriens (QSD) über die drohende türkische Militärinvasion und den daraus folgenden Konsequenzen. Wir geben das Interview hier übersetzt wieder.
Wie kam die Diskussion um eine Sicherheitszone zustande?
Wir hatten eine „Sicherheitszone“ in keiner Weise auf unserer Agenda, denn unsere Region ist bereits sicher. Aber als der IS seiner Niederlage näherkam, versuchten bestimmte Kräfte die Kontrolle über die Region zu erringen. Diese Pläne sind gescheitert. Wir standen in Kontakt zu unseren Nachbarländern, auch der Türkei. Es gab Gespräche, wenn auch innoffiziell. Der türkische Staat weiß ganz genau, dass wir sein Territorium niemals angegriffen haben. Wir haben uns niemals an irgendwelchen Bemühungen beteiligt, die türkische Staatspolitik zu gefährden. Dennoch haben ihre Drohungen in der letzten Zeit zugenommen. Der türkische Staat denkt, die Kurden haben einen Status in Südkurdistan erreicht und ihnen wird hier das gleiche gelingen. So etwas will er entlang seiner Grenze nicht zulassen. Das ist seine einzige Motivation. Deswegen droht er und bereitet einen Angriff vor.
Die „Sicherheitszone“ kam als Drohung auf unsere Agenda
Wir haben keinerlei Intention, den türkischen Staat anzugreifen. Wir sind schon vollauf damit beschäftigt, uns gegen die Angriffe auf die Bevölkerung in unserem Gebiet zu verteidigen. Aber der türkische Staat wiederholt immer wieder, dass er keine solche Kraft an seiner Grenze duldet. Die „Sicherheitszone“ kam durch Drohungen auf unsere Agenda. Wir sagen als Menschen dieser Region und als Verteidigungskräfte, dass es hier sicher ist. Unsere Bevölkerung lebt in Frieden und übt frei ihre Identität und ihren Glauben aus. Es gibt viele Geflüchtete, die heute in Nord- und Ostsyrien leben.
Was will der türkische Staat mit der „Sicherheitszone“ erreichen?
Wir sagen es in aller Deutlichkeit: Wir wollen nicht, dass der Krieg in unserem Land weitergeht. Wir können die Probleme, die der türkische Staat als Vorwand für einen Krieg aufwirft, durch einen Dialog lösen. Der türkische Staat ist vor den Augen der ganzen Welt in das Territorium eines anderen Landes einmarschiert. Was in Bab, Dscharablus, Azaz, Idlib und Efrîn geschieht, kann jeder sehen. Jetzt will die Türkei mit den gleichen Ausreden in Nord- und Ostsyrien einrücken. Unsere Region ist bereits sicher, aber wir sind offen für die Diskussion über die gewünschte Sicherheitszone. Wir wollen unser Volk nicht einem weiteren Krieg aussetzen. Wir wollen, soweit möglich, mit diesen Kräften zu einem Einverständnis kommen. Wir wollen ein Ergebnis, das unserem Volk passt und das die Gründe des türkischen Staats ausräumt.
Es kann nicht sein, dass sich der türkische Staat in der Region aufhält
Wir können Grenzsicherheitskräfte bilden und garantieren, dass es keine Angriffe von unserer Seite geben wird. Aber der türkische Staat will nicht, dass sich die Völker der Region verteidigen. Und wir akzeptieren keine Streitkräfte von außen zur Verteidigung. Jeder muss wissen, dass der Wunsch des türkischen Staates, in der Region präsent zu sein, inakzeptabel ist, weil der türkische Staat die Regionen, in die er vorstößt, auch besetzt und auf Dauer bleibt. An der Grenze wurden unzählige Menschen getötet. Es ist für die Menschen der Region unmöglich, so etwas zu akzeptieren.
Was plant der türkische Staat mit der 32-Kilometer-Zone?
Der türkische Staat hat mit bestimmten Kräften und dem syrischen Regime geplant, uns eine Zone von 32 Kilometer Breite aufzuzwingen. Dieser Plan soll dem türkischen Staat die Kontrolle über einen 32 Kilometer breiten Streifen geben. Andere Kräfte sollen auch nach Südsyrien gehen. Auf diese Weise wollen sie die Region unter sich aufteilen und die unter einem hohen Preis geschaffenen Werte zerstören. Das ist die große Bedrohung und die wahre Absicht des türkischen Staates.
Besteht eine Verbindung zwischen den Angriffen des IS und den türkischen Drohungen?
Wann immer uns der türkische Staat bedroht, verstärkt der IS seine Angriffe in der Region. Die Angriffe haben in der jüngsten Zeit deutlich zugenommen. Das zeigt, dass der türkische Staat den IS wiederbeleben und die Region durch ihn kontrollieren will. Wenn das scheitert, soll zumindest Chaos gestiftet werden. Der IS hat bereits klar und deutlich erklärt, dass die Organisation aus den Camps heraus, in denen sich die IS-Familien befinden, wieder aufleben wird. Mitglieder von Schläferzellen, die von unseren Kräften gefangen genommen wurden, sagen, dass sie „Rache üben“ und in die Region zurückkehren werden. Das ist eine ernste Bedrohung. Das Wiederaufleben des IS ist eine Bedrohung für die Menschheit, nicht nur für die Region. Ja, wir können IS-Mitglieder bis zu einem gewissen Punkt in Gefängnissen halten, aber das belastet uns. Für diese Banden müssen internationale Gerichte eingerichtet werden.
Die QSD-Kommandantur traf sich kürzlich mit dem US-amerikanischen CENTCOM-General Kenneth McKenzie und dem Sonderbeauftragten der Internationalen Koalition, William Roebuck. Auf welcher Ebene fanden diese Treffen mit US-Vertretern statt? Haben sie zu Ergebnissen geführt?
Wir haben mit den US-Vertretern über die türkischen Drohungen, unsere Bedingungen für eine „Sicherheitszone“, unser Bestehen auf eine Lösung durch Dialog und über die Aktivitäten der IS-Schläferzellen gesprochen. Sie sprachen sich dafür aus, eine Lösung ohne einen weiteren Krieg in der Region zu finden. Die türkischen Drohungen blockieren die Lösung. Die letzten Gespräche haben keine konkreten Ergebnisse gebracht, aber der Prozess und unsere Treffen gehen weiter. Natürlich wollen wir auch Ergebnisse. Aber das Ergebnis muss unser Volk zufriedenstellen. Die Menschen hier wissen, dass sich nicht nur die Kurden im Visier befinden, sondern dass das Ziel darin besteht, das wachsende Projekt des friedlichen Zusammenlebens in der Region zu vernichten. Wir haben in einer schwierigen und gewalttätigen Zeit durch die Unterstützung der Bevölkerung große Errungenschaften erzielt. Wir werden unsere Bevölkerung schützen. Unser Volk weiß, dass es nirgendwo anders leben kann als auf seinem eigenen Land. Wenn der türkische Staat angreift, werden wir einen heftigen Krieg führen, um unser Volk zu verteidigen. Wir sind offen für einen Dialog und wollen die Bemühungen um eine Lösung unterstützen, aber wenn nötig, werden wir überall massiven Widerstand leisten.
In den Medien spricht der türkische Staat ständig von der Rückkehr syrischer Flüchtlinge. Vor der Invasion Efrîns wurde diese Frage als Ausrede für die Besatzung genutzt. Warum sprechen sie davon?
Der türkische Staat benutzt die syrischen Flüchtlinge als Vorwand, um ihre Besatzung in der Öffentlichkeit zu legitimieren. Aber die Menschen aus Nordsyrien sind nicht in die Türkei geflohen, sie leben in ihrem eigenen Land. Bei einigen, die aus Nordsyrien in die Türkei flohen, handelte es sich um eine kleine Anzahl von mit dem IS verbundenen und vom türkischen Staat unterstützten Personen. Als wir Gîre Spî befreiten, flohen einige kleine Gruppen und gaben sich als Mitglieder der Freien Syrischen Armee aus. Der türkische Staat benutzt die Migranten als Vorwand, um zu sagen, dass die Menschen aus der Region in die Türkei gezogen sind und diese nun nach Hause zurückgeschickt werden. Er sucht nach einer Basis für seine Angriffe, und wenn er sie findet, will er einen umfassenden Angriff starten. Die Invasion soll damit legitimiert werden. Aber das ist nicht möglich.
Was wird Ihre Strategie im Falle eines Angriffs sein?
Wenn der türkische Staat nicht bereit ist, eine Lösung zu finden und auf Krieg drängt, sollte er wissen, dass wir bereit für den Krieg sind. Im Falle eines Angriffs auf die Region wird sich der Krieg nicht auf das Gebiet beschränken, das angegriffen wurde. Der türkische Staat will nach und nach in die ganze Region eindringen und das vollenden, was er in Efrîn begonnen hat. Wir haben eine lange Grenze zum türkischen Staat. Wenn es einen Krieg gibt, wird die gesamte Grenze ein Kriegsgebiet sein. Natürlich ist der Krieg eine große Bedrohung für das Volk. Es gibt Millionen von Zivilisten aller ethnischen Gruppen in der betreffenden Region. Und ein Krieg würde das Gleichgewicht in der Region völlig verändern. Es gibt auch andere Kräfte in Syrien. Das syrische Regime wird versuchen, das gesamte Gebiet wieder unter Kontrolle zu bringen. In der Region gibt es iranische Truppen und Dschihadistengruppen. Insbesondere der IS stellt eine Bedrohung für unser Territorium dar. Wenn es einen weiteren Krieg gibt, würde der IS ihn ausnutzen und zurückkehren. Es muss auch klar sein, dass Tausende von Flüchtlingen in Camps leben. Auch ihr Leben wird durch einen Angriff in Gefahr gebracht. Es gibt auch IS-Häftlinge, insbesondere solche, die bei der Operation in Deir ez-Zor verhaftet wurden. Wenn die Türkei angreift, werden diese Dschihadisten wahrscheinlich entkommen und sich reorganisieren.
Gibt es Gespräche mit dem syrischen Regime über die türkischen Drohungen?
Wir hatten in der Vergangenheit Treffen mit dem syrischen Regime, aber das Regime will zum Status quo ante zurückkehren. Es will so tun, als wäre nie etwas passiert, und seine eigenen Bedingungen aufzwingen. Das Regime will uns so aussehen lassen, als hätten wir das syrische Land verraten und ausländische Streitkräfte auf syrischem Gebiet zugelassen. Als wären wir die Partner ausländischer Streitkräfte. Das ist nicht der Fall. Das syrische Regime weiß sehr wohl, dass wir niemanden hierhergebracht haben, die entstandenen Partnerschaften sind das Ergebnis der Ereignisse in der Region.
Ausländische Streitkräfte sind wegen der Haltung des Regimes in syrisches Territorium eingedrungen. Manchmal positionierte sich das Regime gegen die Angriffe des türkischen Staates, aber in Wirklichkeit teilt es die gleichen Ansichten. Wir bestehen auf einem Dialog, um die Mentalität der Verleugnung und Vernichtung zu ändern. Die Angriffe sind auch für das syrische Regime gefährlich. Letztendlich ist es syrisches Territorium, das besetzt wird. Wenn die Türkei angreift, wird es nicht möglich sein, sich später wieder zusammenzusetzen und die Frage im Dialog zu lösen. Die Situation wird sich deutlich verschlimmern und verkomplizieren. Kurz gesagt, ja, wir hatten gelegentlich Treffen mit dem syrischen Regime, aber leider konnten wir kein Ergebnis erzielen.