Der türkische Staat versucht die Familienangehörigen von Guerillakämpfer*innen als Mittel der psychologischen Kriegsführung einzusetzen. Während das Regime bei der großen Mehrheit der Angehörigen erfolglos ist, gelang es ihm, eine kleine Gruppe von Angehörigen vor dem Gebäude der Demokratischen Partei der Völker (HDP) in Amed (tr. Diyarbakır) zusammenzubringen. Diese fordert von der HDP die „Rückgabe“ ihrer Familienmitglieder. Die Forderung ist auf zweierlei Weise absurd, denn einerseits haben sich die betreffenden Personen auf eigenen Entschluss der Guerilla angeschlossen und andererseits ist die HDP nicht die Ansprechpartnerin für ein Anliegen an die Guerilla. Das durchsichtige Manöver zur Kriminalisierung der HDP und der Diffamierung der kurdischen Freiheitsbewegung kam in den meisten Fällen auch nur durch Erpressung, Falschinformation und Bestechung zustande.
Einer der „zurückgeforderten“ Guerillakämpfer ist Berxwedan Argeş. Mit ANF sprach er über seine Motivation, warum er in die Berge gegangen ist: „Die Situation meiner Familie war soweit in Ordnung. Wir lebten im staatlichen System. Diese Situation kam uns normal vor. Aber nach einer Weile begannen wir allmählich, den Feind zu erkennen. Ich begann zu verstehen und zu begreifen, was das für ein System ist, das den Kurden aufgezwungen wurde, und wer die Kurden eigentlich sind. Deshalb habe ich mich 2019 der Guerilla angeschlossen.
„Kein menschliches Leben im kapitalistischen System möglich“
Der Hauptgrund, warum ich mich der Guerilla angeschlossen habe, ist, dass ich verstanden habe, dass das Leben, das ich im System lebe, kein menschliches Leben ist und sich das Wesen des kapitalistischen Systems gegen die Menschlichkeit richtet. Es herrscht eine schmutzige Politik, die sich gegen die Menschen, die Kurden und vor allem die kurdischen Jugendlichen richtet. Als ich das Leben der PKK kennenzulernen begann, wurde ich neugierig. Nachdem ich es besser verstanden hatte, schloss ich mich an. Jetzt kämpfe ich in den Reihen der Volksverteidigungskräfte HPG.
„Wir leben hier in Freiheit und Gleichheit“
Wir leben hier in Freiheit und Gleichheit. Unser Leben ist ein Leben, an dem jeder Mensch in seiner eigenen Weise teilnehmen kann. Unser Kampf richtet sich nicht gegen die Menschen, sondern gegen das System der kapitalistischen Moderne. Wir haben zur Waffe gegriffen, um die schmutzige Politik gegen die Gesellschaft zu beenden. Als wir im staatlichen System lebten, verstanden wir das wirkliche Leben nicht. Wir haben so gelebt, dass wir uns weder selbst noch unsere kurdische Identität kannten. Aber nachdem wir in die freien Berge gekommen waren, lernten wir unsere Identität als Menschen, als Kurden und als Individuen kennen. Wir leben ein gleichberechtigtes und freies Leben in den Bergen auf der Grundlage von Rêber Apos Philosophie der demokratischen Nation.
„In den Bergen haben wir uns selbst kennengelernt“
Als wir im System lebten, konnten wir zum Beispiel kein Kurdisch sprechen. Die kurdische Sprache wurde missachtet. Aber nachdem wir in die Berge gekommen waren, lernten wir uns selbst und unsere Sprache kennen, und jetzt benutzen wir sie. Das etatistische System versuchte das ständig zu verhindern. Alle möglichen Spezialkriegsmethoden wurden angewandt, um die kurdische Jugend daran zu hindern. Jede mögliche Form der Korrumpierung wurde dafür eingesetzt. Deshalb erschien uns das Leben im System normal. Aber nach einer Weile merkst du, dass es kein normales Leben ist, es kann nicht einmal als Leben bezeichnet werden. Wenn du darin bleibst, dann erstickst du. Du verstehst, dass es notwendig ist, aus diesem Ersticken auszubrechen und einen Schritt zu gehen, um zu atmen. Also machte ich diesen Schritt, um mich zu retten, und ich kam in die freien Berge und atmete. Jetzt kämpfe ich in den Reihen der HPG meinen Freiheitskampf gegen das Übel. Ich kämpfe für die Freiheit meines Volkes.
In den Reihen der Guerilla gibt es Freundinnen und Freunde jeder Identität. Es gibt nicht so ein Leben wie im monistischen türkischen Staat, wo alles auf einer Religion, einer Ethnizität und einer Sprache beruht. Es gibt hier ein Leben, das auf der Philosophie des gleichen und freien Lebens basiert. Zum Beispiel haben wir Freundinnen und Freunde aus Europa und aus verschiedenen Teilen des Mittleren Ostens, die hierherkommen und sich anschließen. Wir leben und kämpfen hier zusammen, wir werden stärker, indem wir uns kennenlernen.
„Die Familien sollen sich nicht vom Feind betrügen lassen“
Sie nehmen kurdische Familien, deren Kinder zur Guerilla gegangen sind und zerren sie vor die Kameras, sie bringen sie vor die HDP und lassen sie sich dort hinsetzen. Aber warum geschieht das in Amed? Amed ist die Hauptstadt, die Stadt des Widerstands, ein Ort des Kampfes. Es geht dabei darum, Ameds historische Widerstandskultur zu beseitigen. Deshalb werden die Familien als Mittel des Spezialkriegs vor das HDP-Gebäude gesetzt.
„Wir werden unseren Weg bis zum Ende fortsetzen“
Aber sie sollten eines sehr genau wissen, sie werden niemals in der Lage sein, uns von unserem Weg, unserem Kampf für die Freiheit abzubringen. Wir glauben an die Philosophie von Rêber Apo und ziehen daraus unsere Kraft. In dieser Philosophie denken wir nicht an uns selbst und unseren individuellen Vorteil. Die Basis der apoistischen Philosophie ist die Freiheit, Gleichheit und die Idee einer demokratischen Nation. Unsere Familien sollten sich also niemals täuschen lassen, egal was passiert. Die Familien werden bedroht und vom Staat beeinflusst. Aber wir werden unseren Weg bis zum Ende gehen und unseren Kampf fortsetzen.
„Wir kämpfen nicht nur für unsere Familien, sondern für alle unterdrückten Völker“
Ich appelliere an alle Familien, insbesondere an die jungen Menschen: Lasst euch nicht von der Spezialkriegspolitik des Regimes täuschen. Sie wollen, dass wir wieder in dieses schmutzige System zurückkehren und dort leben. Sie wollen nicht, dass sich die Kurden selbst erkennen. Deshalb sollen die Familien wissen, die Häupter der kurdischen Jugend in den Bergen werden immer erhoben sein, sie sollten einen großen Stolz empfinden. Wir kämpfen diesen Kampf nicht nur für unsere Familien, sondern für das gesamte kurdische Volk, für alle unterdrückten Völker. Deshalb richtet sich mein Appell an alle Familien, nicht nur an meine eigene. Sie sollen sich nicht selbst täuschen und auch nicht zulassen, dass andere sie täuschen. Sie müssen sich der Politik des Staats bewusst sein.
„Schaut euch das Leben in der PKK selbst an“
Wir wissen, dass einige Familien mit Drohungen dorthin gebracht wurden, und dass sie unter dem Einfluss der psychologischen Kriegsführung stehen. Es wird ständig versucht, das Leben in der PKK zu diffamieren und die PKK als Terroristen darzustellen. Aber wir nehmen an diesem Leben teil und es ist nicht so, wie der Staat behauptet. Alle, die hierherkommen, können sehen, was das hier wirklich für ein Leben ist. Es ist ein Leben in Freiheit und Gleichheit. Ein menschliches Leben. Deshalb sollten unsere Familien nicht auf die Lügen des Feindes hereinfallen. Es ist mein Appell an alle kurdischen Jugendlichen: Schaut es euch selbst an, erkennt die Realität des Spezialkriegs des Staates gegen die Jugend und nehmt diese schmutzige Politik nicht hin. Wir haben sie nicht akzeptiert und sind in die freien Berge Kurdistans gekommen.
„Kommt in die Berge“
Alle jungen Menschen sollten sich der Unterdrückung durch das Regime widersetzen und das freie Leben in den Reihen der Guerilla wählen. Unsere Familien sollen stolz und aufrecht sein. Egal, was passiert, dieser Kampf wird weitergehen. Wo immer es ein unterdrücktes Volk gibt, eine Gesellschaft, die Freiheit will, werden wir an ihrer Seite kämpfen.
„Vergesst nicht den Widerstand und die Verbrechen des Regimes“
Die Familien, die vor der HDP in Amed sitzen, sollten die Realität von Amed, die Kämpfe und den Widerstand von Amed nicht vergessen. Vor allem sollten sie den Widerstand von Sûr zwischen 2015 und 2016 nicht vergessen. Sie dürfen die Massaker des türkischen Staates nicht vergessen. In Sûr, Cizîr und an vielen anderen Orten wurden unsere Häuser und Städte zerstört, unsere Leute wurden ermordet, junge Menschen wurden bei lebendigem Leibe verbrannt. Das sollte niemand vergessen. Daher sollte die kurdische Jugend immer voller Hass und Wut gegenüber den Feind sein. Sie sollte sich ständig selbst reflektieren, die Realität analysieren und die Augen nicht von dem, was der Feind tut, abwenden.“