Die Großkundgebung in der Widerstandshochburg Amed (tr. Diyarbakır) markierte auch in diesem Jahr den historischen Höhepunkt der Feierlichkeiten zum Neujahrsfest Newroz in Kurdistan. Seit den Morgenstunden war die ganze Stadt, die überall in Grün, Rot und Gelb leuchtete, auf den Beinen. Hunderttausende waren unterwegs, am Ende waren es gut eine Million Menschen auf dem Festplatz. „Jetzt ist die Zeit des Erfolgs“, das Motto von Newroz in diesem Jahr mit der Hauptforderung „Freiheit für Abdullah Öcalan”, nahm praktische Gestalt an: In einem Sternmarsch zum Park strömende Massen reagierten auf den Beschuss mit Gasgranaten und Wasserwerfern mit der Parole „Bijî Serok Apo”, polizeiliche Provokationen durch Festnahmeversuche von Jugendlichen an unzähligen Kontrollstellen und auf dem Feiergelände scheiterten gleichermaßen an verbalem Widerstand. Newroz in Amed war wieder mal mehr als nur ein Fest. Es war eine Demonstration des unbeugsamen Willens eines widerständigen Volkes, ein Akt des zivilen Ungehorsams und vor allem: ein politischer Kampftag.
Traditionell wurde an zahlreichen Stellen auf dem Festplatz zu Live-Musik und Def û Zirnê getanzt
Das Programm war reichlich und vielfältig gefüllt. Auf der Bühne wechselten sich politische Reden mit musikalischen Beiträgen von Künstlerinnen und Künstlern wie Rojda, Azad Bedran, Servet Kocakaya, Kazo und Elenora, sowie aus dem Knast versendete Botschaften von der ehemaligen HDP-Abgeordneten Leyla Güven und dem abgesetzten Ko-Oberbürgermeister von Amed, Adnan Selçuk Mızraklı ab. Die Vorsitzenden der Parteien aus dem Kurdistan-Bündnis traten gemeinsam mit dem politischen Urgestein Ahmet Türk auf die Bühne. Der 79-Jährige appellierte an die politischen Parteien im viergeteilten Kurdistan, zur „nationalen Einheit” zu finden. „Es ist an der Zeit, dass wir zusammenkommen, um gemeinsame Positionen zu formulieren. Wenn es uns tatsächlich um die kurdische Sache gilt, müssen wir uns verständigen und Differenzen beiseite legen. Ein anderes Verhalten wird uns weder die Geschichte vergeben, noch unser Volk. Es ist notwendig, eine Politik zu machen, die für die neue Ära geeignet ist, die demokratischen Kräfte zu stärken und unser Volk um gemeinsame Werte zu versammeln.“
Großer Abstand zwischen Bühne und Menschenmenge für Platz von massivem Polizeiaufgebot
Der Ko-Vorsitzende des Graswurzelbündnisses „Demokratischer Gesellschaftskongress” (KCD), Berdan Öztürk, leitete seine Rede mit den Worten „Der Unterton des diesjährigen Newroz ist unüberhörbar; Es ist die Zeit des Erfolges, es ist die Zeit des Sieges. Dieses Newroz ist das Fest von Abdullah Öcalans Freiheit.” Öztürk kam auf die Phase ab 2014 zu sprechen, als in Ankara der sogenannte Zersetzungsplan („Çöktürme Planı“), ein militärisches und politisches Vernichtungskonzept gegen die kurdische Gesellschaft und ihre organisierten Strukturen, in die Wege geleitet wurde und sich seither Krieg, Krisen und Konflikte immer weiter verschärfen. „Das ist die einzige Strategie der Herrschenden in Ankara, ihre Existenz gegenüber einem Volk zu garantieren, das für Frieden und Demokratie kämpft. Sie haben sich die Feindschaft gegenüber den Kurdinnen und Kurden als Weg auserkoren statt auf die Worte Abdullah Öcalans zu hören, die da lauteten: Freiheit, Gleichberechtigung, Demokratie und gerechter Frieden. Noch ist es nicht zu spät, vom falschen Pfad abzukommen und Frieden mit diesem Volk zu schließen”, sagte Öztürk.
Besonders hohe Polizeigitter sollten Menschen davon abhalten, vor die Bühne zu stürmen
Als Höhepunkt des diesjährigen Newroz in Amed erwies sich die Rede von der HDP-Vorsitzenden Pervin Buldan, die mit der Parole „Bijî Serok Apo” begrüßt wurde und tosenden Applaus erntete. „Wieder einmal ist es das Volk von Amed, das an diesem Tag Geschichte schreibt. Newroz, das ist unser jahrtausendealtes Frühlingsfest, das im Widerstand gegen Unterdrückung und den Kolonialismus zu einem politischen Fest geworden ist. Newroz bedeutet gleichzeitig auch Hoffnung, Geschwisterlichkeit und Mut. Ihr habt euch an diesem historischen Tag wieder einmal denjenigen widersetzt, die eure Rechte nicht achten. Diese Haltung, die es gilt zu würdigen, ist der manifestierte Ausdruck der Roadmap zu Demokratie, Frieden und Gerechtigkeit.“
An selber Stelle verlas Pervin Buldan 2013 die Newroz-Deklaration von Abdullah Öcalan
Im weiteren Verlauf ihrer Rede erinnerte Buldan an Newroz 2013. Es war das Jahr, in dem in Amed die Inhalte der Newroz-Deklaration von Abdullah Öcalan erstmals in die Öffentlichkeit gelangten. Buldan trug einige Passagen aus dem historischen Positionspapier mit dem Hauptziel eines gerechten Friedens und demokratischer Politik vor und unterstrich, dass die HDP nach wie vor an den Inhalten der Deklaration festhält. „Das Geschehene in den letzten neun Jahren bildet mit jedem Blick zurück eine wichtige Gelegenheit, uns an die Dringlichkeit der Deklaration zu gemahnen, wenn es darum geht, Gerechtigkeit, den gesellschaftlichen Frieden und das gemeinsame Leben zu schaffen.“
Kurdische Frauen in ihren traditionellen Kleidern
Buldan fuhr fort: „Als HDP und als kurdisches Volk heben wir mit Nachdruck vor, dass wir hinter der Newroz-Deklaration von 2013 stehen. Wir alle sind Zeugen dessen geworden, zu was eine Regierung, die Angst vor einer Lösung hat, fähig ist, und werden es auch heute. Diese Regierung will Krieg statt Frieden, will Hass statt Geschwisterlichkeit der Völker. Diese Regierung setzt alles daran, das kurdische Volk und seine Identität zu isolieren und zu vernichten. Die Geschichte des kurdischen Volkes ist geprägt durch Verfolgung auf der einen Seite, aber auch durch Widerstand auf der anderen Seite. Wir haben es mit einer Regierung zu tun, die mit all ihrer Kraft der demokratischen Politik entgegenwirkt, die Gesellschaft und das Land an den Rand des Abgrunds führt. Doch wir sind entschlossen: Die HDP ist der Schlüssel und sie wird dieses Land demokratisieren. Wir werden kämpfen um Frieden und Freiheit, kämpfen um die Aufhebung der Isolation von Abdullah Öcalan und kämpfen für die Umsetzung der Inhalte seiner Deklaration.“
Nach weiteren Reden wurden das Newroz-Feuer entzündet und das musikalische Programm fortgesetzt. Den Festplatz verließen die Massen in kämpferischen Märschen.