Hunderttausende in Istanbul: Bijî Serok Apo

Bei einer beeindruckend großen Newroz-Feier in Istanbul haben hunderttausende Menschen wieder einmal gezeigt, dass der Kampf der Kurdinnen und Kurden um Frieden, Freiheit und Demokratie nicht mit Repression und Gewalt verdrängt werden kann.

Bei einer beeindruckend großen Newroz-Feier in Istanbul haben hunderttausende Menschen am Sonntag wieder einmal gezeigt, dass der Kampf der Kurdinnen und Kurden um Frieden, Freiheit und Demokratie nicht mit Repression und Gewalt verdrängt werden kann. „Jetzt ist die Zeit des Erfolgs“ lautete auch in der Bosporus-Metropole das Schlagwort des diesjährigen Newroz. Die Hauptforderung – die Freilassung von Abdullah Öcalan – hallte in Form von der Parole „Bijî Serok Apo“ durch den Platz im Hafenviertel Yenikapı. Auch wenn von einer „Feier“ die Rede gewesen ist, war es zutreffender, von einem Kampftag zu sprechen.

Seit dem Morgen strömten große Menschenmengen in Märschen auf den Feierplatz. Die Verbände der Istanbuler HDP hatten neben hunderten Bussen auch mehrere Fähren zur kostenlosen Beförderung der Teilnehmenden angemietet. Aus den Blöcken der Jugendbewegung ertönte das Widerstandslied Çerxa Şoreşê (Das Rad der Revolution) besonders laut. Die Polizei, die rund um den Yenikapı-Hafen mehrere Kontrollstellen hochgezogen hatte, war bei dem Versuch, mancherorts das Tempo der Demonstrationszüge zu verringern, hoffnungslos überfordert. Kompensiert wurde dies im weiteren Verlauf durch die unterbundene Teilnahme einiger weniger Menschen an der Feier wegen vermeintlich verbotener Symbolik. Dabei ging es hauptsächlich um Schals mit dem Logo der HDP und dem Konterfei ihres inhaftierten früheren Ko-Vorsitzenden Selahattin Demirtaş.

Feuer von Friedensmüttern entzündet

Das Bühnenprogramm startete mit Live-Musik der Sängerin Huriye, die von einer Straßenband begleitet wurde. Bei den niedrigen Temperaturen, die herrschten, begleiteten die Gäste das Konzert mit besonders ausgiebigen Tänzen, die mancherorts den Boden erzittern ließen. Als ein Team des Organisationskomitees an die Mikrofone trat, um die Menge zu begrüßen, löste der Jubel beinahe ein Beben aus. Nach einer Schweigeminute für Mazlum Doğan, Zekiye Alkan und alle anderen „Newroz-Gefallenen“ wurden die Parolen „Şehîd Namirin“ und „Bijî Serok Apo“ angestimmt.

Die Eröffnungsrede des Istanbuler Newroz kam von Atilla Özdoğan. Es wurde aus einer gemeinsamen Erklärung des Newroz-Bündnisses verlesen, dem neben der HDP und dem HDK auch diverse Kleinparteien und Organisationen aus dem linken und sozialistischen Spektrum angehören, darunter die „Vereinten Kampfkräfte“ (BMG) und die „Demokratie-Koalition“. Unter den Schlagwörtern „Nein zu Krieg und Besatzung, nein zu männlich dominierter Politik, nein zu Rassismus und Diskriminierung – Ja zu Freiheit, Frauenbefreiung, Ökologie, Demokratie und Frieden“ wurde die Linie für den gemeinsamen Kampf vorgegeben. Daran anschließend traten Aktivistinnen der Initiative der Friedensmütter auf den Platz und entfachten das Newroz-Feuer.

Demir: Wir sind die Kräfte, die eine andere Türkei wollen

Das Bühnenprogramm wurde mit politischen Reden und Live-Musik fortgesetzt. Esengül Demir, die Ko-Sprecherin des HDK – dem „Demokratischen Kongress der Völker“, aus dem die HDP 2012 hervorgegangen ist – bezeichnete Newroz 2022 als einen „Auferstehungstag“ gegen die Repression des Regimes. Nach den Protesten am feministischen Kampftag 8. März habe Newroz erneut gezeigt, dass diejenigen, die „eine andere und vor allem demokratisierte Türkei wollen“, trotz aller Unterdrückung nicht verschwinden werden.

„Wir sind Hunderttausende und unsere Botschaft lautet: ‚Wir sind hier, und wir werden weiterhin Widerstand leisten.‘ Wir sind die Kraft, die dieses Land vom Palast-Regime befreien wird. Die Quelle unserer Stärke ziehen wir aus der Vereinigung der Menschen, die am Frauenkampftag, an Newroz und am 1. Mai auf den Straßen sind und ihre Stimme lautstark für ihre Rechte und gegen die Politik der Herrschenden erheben“, sagte Demir.

Im weiteren Verlauf forderte die HDK-Sprecherin die Freilassung von Abdullah Öcalan. Der Vordenker der kurdischen Befreiungsbewegung sei wichtigster politischer Repräsentant der Kurdinnen und Kurden und Schlüsselfigur bei der Lösung der kurdischen Frage. „Das Ende des Isolationssystems auf Imrali und Öcalans Freiheit sind daher unabdingbar für Frieden in Kurdistan, der Türkei und der gesamten Region.“

Sancar: Festhalten am dritten Weg

Auch der Ko-Vorsitzende der HDP, Mithat Sancar, hielt eine Rede. Der Politiker gratulierte allen Anwesenden zunächst zum neuen Jahr und bezeichnete Newroz als „Symbol für die Hoffnung auf ein neues Leben“, das für den Widerstand gegen das Unrecht und den Hunger nach Gerechtigkeit stehe. Anschließend sprach Sancar das „Festhalten am dritten Weg“ als Initiative für eine demokratische Zukunft der Völker der Türkei an und erinnerte an die Inhalte der 2013 von Abdullah Öcalan abgegebenen Newroz-Deklaration. Dieses „historische“ Positionspapier habe den Gesellschaften der Türkei bereits vor neun Jahren den Weg zu einem „gerechten Frieden“ aufgezeigt. „Daran halten wir als Partei fest. Denn dies ist die Essenz unserer strategischen Haltung zur Türkei“, so Sancar. Der Staat müsse zurückfinden an den Verhandlungstisch, den er 2015 einseitig umwarf, um wieder auf den „totalen Krieg“ zu setzen. Die HDP wolle sich auch weiter für ein Ende der Eskalation und Konfrontation einsetzen, damit am Verhandlungstisch ein dauerhafter und gerechter Frieden ermöglicht wird.