Newroz findet 2022 im Zeichen von Krise, Unterdrückung, Repression und Krieg statt. Kurdische Kräfte und mit ihnen verbündete Linke betrachten das Fest in diesem Jahr daher nicht nur als Ankunft des Frühlings und des neuen Jahres, sondern als Neuaufbruch. In vielen Städten der Türkei und Nordkurdistans ist Newroz bereits begangen worden, für diesen Sonntag steht die zentrale Feier in Istanbul an. ANF hat Aktive aus den HDP-Strukturen bei der finalen Mobilisierung in der Bosporus-Metropole begleitet.
„Jetzt ist die Zeit zu siegen“
Cengiz Cemre von der HDP sagt, es herrsche ein Klima heftiger Repression und großer Wut im Land. Der Alltag der Gesellschaft sei geprägt von sozialen Spannungen und zahllosen Ungerechtigkeiten, die Wut der Menschen darüber koche manchmal richtig hoch. „Deshalb bin ich zuversichtlich, dass sich das diesjährige Newroz dadurch auszeichnen wird, dass die von den Kawas gegen die Dehaks entzündeten Feuer des Widerstands noch größer und lebendiger brennen werden“, sagt Cemre in Anspielung auf die mythologische kurdische Geschichte von Newroz, in der der Schmied Kawa den Unterdrücker Dehak besiegt. Die Frauenbewegungen hätten bei den Protesten anlässlich des feministischen Kampftags am 8. März bereits ein starkes Zeichen gesetzt. „Und auch bei der Jugend und der akademischen Welt bewegt sich etwas Großes“, fährt Cengiz Cemre fort. „Die Werktätigen fordern das, was ihnen für ihre in die Produktion investierte Kraft zusteht. Gleichzeitig sind auch die Beschäftigten von Lieferdiensten im Aufstand. Ihre Situation war in den Arbeitskämpfen lange kein Diskussionsthema. Es sieht danach aus, als hätten die Menschen die Entscheidung getroffen, nicht mehr zur Verarmung, der Repression und der zunehmenden Ausbeutung und Verelendung zu schweigen – komme was wolle. Natürlich können wir keinen plötzlichen, großen Sprung erwarten, aber ich betrachte Newroz, als eine frohe Botschaft einer neuen Ära, in der ein neuer Kampf von Ost nach West gemeinsam entstehen wird. Ich sage: Jetzt ist die Zeit zu siegen.“
Gruppenfoto des Mobilisierungs-Teams
„Wir haben mehr zu sagen denn je“
Gülşenay Dalveren ist Aktivistin der Partei des Sozialistischen Wiederaufbaus (SYKP). Sie betont, Newroz vermittle die Botschaft eines dritten Weges, jenseits der beiden konkurrierenden Machtblöcke – der „Volksallianz“, in der die AKP und die rechtsextreme MHP gemeinsam mit der neofaschistischen BBP vertreten sind, sowie das „Bündnis der Nation“, in dem die republikanische CHP, die MHP-Abspaltung IYI-Parti und die AKP-Mutterpartei Saadet zusammengeschlossen sind. Seit Februar gibt es zudem ein Bündnis aus sechs „Oppositionsparteien“, darunter CHP und IYI, die sich auf eine gemeinsame Strategie zur Ablösung von Präsident Recep Tayyip Erdoğan verständigt haben. Auf Dalveren macht das neue Wahlbündnis keinen Eindruck. „Wir werden an Newroz dem Regime und diesem Sechsergespann eine deutliche Botschaft übermitteln. Unser Wahlvolk ist keine einfache Hürde und natürlich haben wir Alternativen. Wir erleben die heftigste Repression und die schwerste Gewalt. Deshalb haben wir mehr zu sagen denn je.“
„Wir werden Newroz mit dem Schwung des 8. März begehen“
Fatma Ince ist bei der Plattform für sozialistische Solidarität (SODAP) organisiert, die Teil des unlängst gebildeten Newroz-Bündnisses linker Parteien und Gruppen ist. Vertreten sind darin unter anderem die HDP und HDK zusammen mit den „Vereinten Kampfkräften“ (BMG) und den Parteien und Organisationen der „Demokratie-Koalition“, der die TIP, EMEP, TÖP, EHP, SMF und die Volkshäuser angehören. Ince deutet auf eine Atmosphäre des „historischen und sozialen Wandels“ hin, in der Newroz in diesem Jahr begrüßt werde. „Das hat eine große Bedeutung, insbesondere mit Blick auf die verschärfte Repression gegen die HDP“, sagt die Aktivistin. „Die HDP ist das wichtigste Werkzeug des kurdischen Volkes, um eine eigene demokratische Alternative und Zukunft zu schaffen. Aber auch für linke und sozialistische Bewegungen in der Türkei ist sie die wichtigste Partei, wenn es darum geht eine Zukunft für die Arbeiterklasse, die Unterdrückten und das Volk aufzubauen.“ Das sei der Grund dafür, dass die Repressionsschraube ständig angezogen wird, sagt Ince. „Vor ein paar Tagen wurden 25 unserer Freundinnen, die sich federführend an der Organisierung von Newroz-Feiern beteiligt haben, festgenommen. Die Unterdrückung ist massiv, aber der Kampf geht unvermindert weiter. Die HDP hat ist eine entscheidende Kraft für die soziale Opposition, und keine Repression wird sie aufhalten.“ Zu den bevorstehenden Feierlichkeiten in Istanbul erklärt die Aktivistin: „Wir werden mit der Energie, die wir aus dem 8. März gezogen haben, Newroz begehen. Mit dieser Kraft werden wir unsere Stärke am 1. Mai noch einmal verdoppeln.“
„Wir haben eine Alternative zu den beiden Optionen der Rechten“
Deniz Kaplan ist in der Bewegung der „Volkshäuser“ (Halkevleri) organisiert. Er appelliert an die Öffentlichkeit, „gegen die kapitalistische Ordnung für die Freiheit, gegen den Faschismus für die Geschwisterlichkeit der Völker und für Demokratie“ an den heutigen Feierlichkeiten teilzunehmen. „Wir haben ein ‚Bündnis für Demokratie‘ aus der sozialen und politischen Opposition sowie der Arbeiter-, Frauen- und Jugendbewegung. Mit dieser Allianz werden wir zeigen, dass wir eine Alternative zu den beiden Optionen der Rechten haben. Wir werden uns unseren Weg weiter ebnen.“
„Wir öffnen den dritten Weg“
Begüm Inan von der linken Partei EMEP charakterisiert die aktuelle Zeit als eine, in der antidemokratische Praktiken herrschen, und dass selbst ein kleinstes Körnchen des Friedens dringend notwendig wäre. „Newroz schafft in einer solchen Situation die Hoffnung auf die Ankunft des Frühlings und des Friedens. Es wird ein Fest sein, an dem wir uns gegen Faschismus, Armut, Gewalt an Frauen und alle Ungerechtigkeiten stellen werden. Es soll uns Luft zum Atmen geben. Während die Menschen zwischen zwei Alternativen hin und her gedrängt werden, öffnen wir den dritten Weg. Wir sagen, wir sind hier und rufen die Völker auf, mit uns gemeinsam zu marschieren.“
Can Ersoy von der Partei der Werktätigen (EHP) weist auf die aktuelle ökonomische Krise und die imperialistischen Kriege und Angriffe auf die Bevölkerung hin. Diese prägten das Umfeld von Newroz. Daher sei es notwendig, dass alle an Newroz zusammenkommen. „Schließlich befinden wir uns schon am Vorabend der Wahlen. Diese finden spätestens 2023 statt, möglicherweise werden sie auch vorgezogen. Dementsprechend müssen sich alle vorbereiten. Das diesjährige Newroz wird ein Zeichen der Hoffnung für die Menschen sein, die zwischen den beiden Allianzen eingezwängt werden, und einen wichtigen Wendepunkt für die Demokratie darstellen.“
„Wir werden den neuen Frühling organisieren“
Çağdaş Büyükbaş von „Revolutionäre Haltung“ (Devrimci Duruş) spricht ebenfalls von einer Vertiefung der politischen und ökonomischen Krise im Land. In einer solchen Lage müssten die Menschen eigentlich permanent auf der Straße sein, findet er. Newroz werde in diesem Sinne seine Wirkung entfalten, bei der Feier sollen zudem konkrete Forderungen zur Änderung des Systems aufgestellt werden. Das Gespräch beendet Büyükbaş mit der Aussage: „Wir werden den neuen Frühling organisieren.“
Ani Kalk: Kraft in linken Flügel stecken
Die Ko-Vorsitzende der HDP im Istanbuler Bezirk Şişli, Ani Kalk, verweist auf das Motto ihrer Partei zu Newroz – „Jetzt ist es Zeit zu siegen“. Es werde ein Fest, dass die Angehörigen allen ethnischen Identitäten und Glaubensrichtungen im Namen von Frieden, Freiheit und Demokratie begehen werden. Niemand sei bereit, angesichts des Faschismus die Freude und die Leidenschaft dieses wichtigen Tages zu verlieren. „Es ist jetzt nicht die Zeit des Rückzugs“, sagt Kalk und ruft zur Organisierung auf. So sei es möglich zu demonstrieren, dass eine Alternative machbar ist. Mit Blick auf die nächsten Wahlen in der Türkei erklärt die Politikerin: „Wir müssen gut arbeiten, indem wir all unsere Kraft in die Partei und den linken Flügel stecken, um diese faschistische Regierung so schnell wie möglich zu zerschlagen. Andernfalls werden wir in diesem Land nicht mehr leben können. Wie Hrant Dink einmal sagte: Die Angst der Taube wird uns bis zum Ende begleiten.“
Ani Kalk ist gebürtige Armenierin
„Wir befreien uns selbst“
Ibrahim Halil Elmas vom Kollektiv der sozialistischen Zeitschrift Kaldıraç ist fest überzeugt von einem diesjährigen Newroz als Plattform für Menschen, ihre Forderungen und aufgestaute Wut zum Ausdruck zu bringen. „Das war bereits am 8. März so. An Newroz und am 1. Mai wird dies ebenso sein. Die Orte, an denen die Menschen ihre Forderungen und sich selbst konfrontieren können, bringen eine massenmilitante Zeit hervor. Je mehr wir uns an diesen Orten organisieren können, desto größere Bedeutung gewinnen Masse und Größe.“ Elmas weist darauf hin, dass Newroz 2022 eine ganz besondere Bedeutung habe. Die liege an den nächsten Wahlen, der Wirtschaftskrise und dem Krieg. Die Herrschenden griffen in jedem Bereich des Lebens an. Deswegen sei Massenprotest von besonderer Bedeutung. Zu Newroz erklärt der Aktivist: „Dies ist kein Tag der Verzweiflung. Denn Hoffnung steckt in jedem einzelnen Menschen. Wir erwarten keinen Retter, weil wir uns selbst befreien werden. Unsere organisierte Kraft ist es, die uns erlösen wird. So sehr wir auf uns selbst vertrauen und unsere Kraft hervorbringen, soviel Hoffnung werden wir gewinnen. Jeder muss seine eigene Kraft erkennen und Verantwortung übernehmen. Wir werden mit der Kraft, die wir uns einander geben, voranschreiten.“
„Das Wetter ist kalt, aber wir wärmen uns mit unseren Tänzen auf“
Der frühere Geschichtslehrer und HDP-Politiker Mutlu Öztürk, dem im Rahmen des Verbotsverfahrens gegen seine Partei ein politisches Betätigungsverbot droht, beschreibt Newroz zwar als eines der ältesten Feste der Menschheit; für Kurdistan und die Türkei stelle es allerdings etwas Neues dar. „Einerseits ist Newroz das Fest, bei dem das Erwachen der Natur gefeiert wird, andererseits ist es seit den 90er Jahren ein Symbol des Aufstiegs des kurdischen Kampfes. Heute, im Jahr 2022 in der Türkei, stehen wir fast am Rande eines neuen Weltkriegs, nicht nur in Bezug auf den Nahen Osten und Kurdistan, sondern auch in Bezug auf den Krieg in der Ukraine. Ich denke, es ist notwendig, das Potenzial von Newroz gut zu nutzen, um die Völker zusammenzubringen, und insbesondere die Freundschaft zu stärken. Es wird kalt sein, aber wir werden uns mit unseren Tänzen aufwärmen. Wir erwarten alle am Sonntag auf dem Yenikapi-Platz.“
„Menschen sollten den Wert von Unterschiedlichkeiten zu schätzen wissen“
Seda Berzek arbeitet in der Vorbereitungsgruppe für das Newroz-Fest mit. Sie weist auf die Tatsache hin, dass Newroz nicht nur von den Völkern Anatoliens, sondern auch von Nationen im Kaukasus gefeiert wird. In diesem Zusammenhang kritisiert Berzek das repressive Klima in der Türkei und wirft dem Regime vor, Newroz „wie jede schöne andere Sache auch“ als Druckmittel zu missbrauchen. „Wir leben in einer Zeit, in der Unterschiede nicht toleriert werden. Die Politik der Unterdrückung und Assimilation, insbesondere gegen das kurdische Volk, ist unerbittlich. Dies gilt natürlich nicht nur für die Gegenwart, aber jetzt, da wir uns im 21. Jahrhundert befinden, sollten die Menschen den Wert von Unterschiedlichkeiten zu schätzen wissen. Es muss erkannt werden, dass verschiedene Kulturen, verschiedene Lebensformen und Sprachen, dem Menschen und der Gesellschaft Reichtum bringen, dass sich alle Komponenten gegenseitig stützen und nähren. Ich wünsche, dass dieses Newroz ein Fest wird, an dem sich die Menschen in die Arme schließen.“