Die Zahl der Todesopfer, Verletzten und Obdachlosen nach den verheerenden Erdbeben in Teilen der Türkei und Syriens steigt und steigt. Unermesslich ist das Leid, das über die Menschen in den betroffenen Gebieten gekommen ist. Viele sind unter zusammengestürzten Häusern begraben worden, viele sind in den kalten Nächten erfroren, bevor sie aus den Trümmern befreit werden konnten.
Und längst ist die Dimension der Katastrophe nicht annähernd erfasst. Auch am fünften Tag nach den schweren Erschütterungen bleibt die Lage in der Türkei chaotisch. Betroffene klagen über mangelnde Hilfen und die Unzufriedenheit in der Bevölkerung wächst weiter. Die Berichte, dass zivile Katastrophenhilfe vielerorts weiterhin unterbunden wird und der staatliche Katastrophenschutz noch immer vor allem in den Hochburgen der islamistischen Regierungspartei AKP tätig sei, dafür aber zu wenig in den kurdischen und arabischen Gebieten, reißen nicht ab. Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan wettert indes weiter gegen „Lügen und Provokation“, droht Überlebenden, die aus Not Geschäfte plündern, weil es keine andere Hilfe gab, und macht Parteipolitik.
Da ist es ein gutes Zeichen, dass die Oppositionsparteien alle politischen Differenzen beiseitelegen. Im Angesicht der Katastrophe eint sie eine beispiellose Solidarität. Das demonstrierten Pervin Buldan und Kemal Kılıçdaroğlu, die Vorsitzenden der HDP und CHP, am Sonnabend in der nordkurdischen Provinz Amed (tr. Diyarbakir). Begleitet von zahlreichen Mitgliedern ihrer Parteien, machten sich beide Politiker:innen vor Ort ein Bild von der Lage, sprachen mit Überlebenden und trafen sich mit Berufsverbänden und zivilgesellschaftlichen Organisationen.
„Ich glaube fest daran, dass wir diese Katastrophe gemeinsam überwinden und die Wunden gemeinsam heilen werden können“, sagte Kılıçdaroğlu bei einem Besuch in der Innenstadt von Amed. Die Delegationen kamen vor der Ruine eines achtstöckigen Wohnhauses zusammen, aus dem am Morgen eine 55-jährige Frau nach 122 Stunden des Bangens aus den Trümmern gerettet worden war. Der CHP-Politiker dankte allen Rettungsteams, der AFAD, NGOs und zivilen Freiwilligen, die sich im Erdbebengebiet an der Bergung und Versorgung von Verschütteten beteiligten, kritisierte jedoch, dass es keine schnelle und koordinierte Hilfe gebe. Zudem verwies Kılıçdaroğlu auf krasses Staatsversagen. Die Schäden des verheerenden Erdbebens hätten begrenzt werden können, darin seien sich alle Fachleute einig. Doch Ingenieure hätten Vorschriften zu erdbebensicherem Bauen nicht beachtet und Bauämter seien ihrer Kontrollpflicht nicht nachgekommen.
„Der Staat hat falsch gehandelt und illegales Bauen sogar gebilligt”, ergänzte Pervin Buldan. Die HDP-Vorsitzende sprach die Zwangsverwaltung in Amed und anderen ehemals von ihrer Partei regierten Kommunen an, die menschenwürdige Lebensbedingungen faktisch unmöglich mache. „Wir konnten in allen Städten, die von sogenannten Treuhändern verwaltet werden, feststellen, dass Projekte für eine erdbebensichere Nachrüstung alter Gebäude nicht fortgesetzt wurden und Risikoanalysen sowie konkret ausgearbeitete Notfallpläne völlig ungeachtet blieben. Dies hätte nicht sein müssen, wenn unsere gewählten Bürgermeisterinnen und Bürgermeister in Rathäusern sitzen würden, statt im Gefängnis”, so Buldan.
„Vergessen wir für den Moment alle politischen Differenzen. Krisenzeiten sind auch Zeiten der Solidarität, die heilt und verbindet“, lautete das letzte Wort von Kılıçdaroğlu. Um die Wunden des Erdbebens zu heilen und die Türkei auf eventuelle künftige Erdbeben vorzubereiten, müssten alle Hand anlegen und Schulter an Schulter zusammenarbeiten. „Wir können viel erreichen, wenn wir zusammenhalten und uns beistehen.“ Dem schloss sich auch Buldan an.