Êrsî: Unser Ziel ist die physische Befreiung von Öcalan

„Wir sehen die physische Freiheit Abdullah Öcalans als Grundlage unseres Kampfes an. Daher werden wir dieses Jahr auf Grundlage moderner Guerillataktiken gestalten, den Feind aus Kurdistan vertreiben und Rêber Apo befreien“, sagt Rizgar Êrsî (HPG).

Der Kommandorat der Volksverteidigungskräfte (Hêzên Parastina Gel, HPG) hat Ende Januar in den Medya-Verteidigungsgebieten seine Jahreshauptversammlung durchgeführt. ANF hatte dabei die Gelegenheit, mit dem Guerillakommandanten Rizgar Êrsî über die dabei behandelten Themen und die Zielsetzung für das Kampfjahr 2021 zu sprechen.

Sie haben Ihre Jahresversammlung in einer äußerst intensiven Phase abgehalten.

Es ist eine wichtige und historische Zeit. Wir haben viele Themen ausführlich behandelt und intensive Diskussionen geführt. Wie Sie wissen, führte der faschistisch-genozidale Kolonialstaat Türkei 2020 einen umfassenden Angriff auf die Werte des kurdischen Volkes durch mit dem Ziel, die Befreiungsbewegung zu liquidieren. Dieser Zerschlagungsprozess fing mit der Verschärfung der Isolation unseres Vorsitzenden an. Im weiteren Verlauf richteten sich die Angriffe gegen Aktivitäten im politischen und gesellschaftlichen Bereich. Darüber hinaus gab es umfangreiche Feindseligkeiten der kurdischen Jugend und den Frauen gegenüber. Diktator Erdogan und sein faschistischer Partner Bahçeli haben Kurdistan in ein Freiluftgefängnis verwandelt. Ich bezweifele, dass es noch Patrioten gibt, die nicht von dieser Repressionswelle erfasst worden sind. Jede Person mit einem kurdischen Nationalbewusstsein wird früher oder später von dieser Besatzungsmentalität heimgesucht. Das gehört zur Spezialkriegspolitik.

Gegenüber der versuchten Liquidierung hat die Guerilla große Opfer vollbracht und Widerstand geleistet. Von Dersim bis Xinere und Xakurke über Serhed ins Amanosgebirge führten selbstlose Menschen selbstlose Kämpfe und sind gefallen. Ohne Zweifel ist es diese mutige Haltung der Guerilla, die den Liquidationsplan des Feindes zunichte gemacht hat. Denn der Feind entwickelt neue Konzepte und unternimmt große Anstrengungen, um seine zersetzende, genozidale Politik wiederzubeleben und vor allem in die Praxis umzusetzen. Wir haben bei unserer Zusammenkunft einen Punkt besonders hervorgehoben: Als Befreiungsbewegung sind wir seit mehr als vier Jahrzehnten im Krieg mit diesem Besatzerstaat, entsprechend groß sind unsere Erfahrungen. Viele junge Leute haben sich auf Basis dieser 40-jährigen Kriegspraxis bei der Guerilla ausgebildet und sich Fähigkeiten angeeignet. Damit dieses Wissen auch in der Praxis Früchte trägt, muss der Wille bestehen, ohne zu zögern den Sieg gegen die Besatzer zu erringen. Das Ziel, das wir uns gesetzt haben, ist: den Kampf zum Sieg tragen. Am Beispiel Heftanîn ist unsere Zielsetzung sichtbar.

Liquidierungspläne vereitelt

Seit Beginn des letzten Jahres versuchte der Feind unter Anwendung seiner Spezialkriegsmethoden über Operationen wie Blitz, Kralle und aktuell Eren Druck auf unsere Bevölkerung auszuüben, um so Ergebnisse für sich zu erzielen. Doch auch hier ist er kläglich gescheitert. Wir sagen ja immer, dass der Feind nur mit seiner Technik gegen uns kämpfen kann und ihm auf dem Boden sowohl der Wille als auch der Mut fehlt. Mittlerweile erzielt sogar die Technik des Feindes kaum noch Ergebnisse. Warum ist das so? Schauen wir uns an, aus welchen Gruppen der vom türkischen Staat zusammengestellte Söldnertrupp besteht, der in allen Regionen außerhalb von Bakur (Nordkurdistan, ANF) gegen uns eingesetzt wird: kollabierende Kurden und Überreste von Milizen wie dem IS, al-Nusra und anderer. Es sind nicht die offiziellen Streitkräfte der Türkei, die gegen uns kämpfen. Der Staat ist auf diese Überbleibsel von Milizionären angewiesen, da seine Technik auf der Strecke bleibt. Und um unsere Freiheitsbewegung zu beseitigen, werden alle Ressourcen der Türkei verschachert. Gewiss führt unser dagegen geleisteter Widerstand zu Opfern, aber als Apocî-Bewegung haben wir in der Vergangenheit noch viel schwierigere und äußerst kritische Phasen durchlaufen. Alle Situationen konnten wir erfolgreich bewältigen und auch diesen Prozess werden wir bezwingen und gewinnen.

In dieser Hinsicht bewertet unser Kommandorat 2020 als ein Jahr, in dem die Guerilla durch großen Widerstand und Opferbereitschaft den Feind daran hinderte, sein Ziel zu verwirklichen. Die Freiheitsguerilla in den Bergen Kurdistans besitzt großes Vertrauen und eine feste Entschlossenheit. Was auch immer der Feind tut, diese faschistischen Angriffe können keine Ergebnisse erzielen. Das ist sicher. Mit fortschreitendem Krieg reift die Guerilla und wird um viele Erfahrungen reicher. Sie eignet sich die Grundlagen des neuzeitlichen Kampfes an, wird professionell, erweitert ihren ideologischen und militärischen Horizont. Auch wenn eine Bewegung zahlenmäßig unterlegen ist, kann sie eine größere Kraft bezwingen, solange sie versiert ist. Durch Anpassung an die Bedingungen der neuen Zeit – ob es Tarnung, Anonymität oder den Bewegungsstil betrifft – solange im Gelände die Guerilla im Vorteil ist, wird der Feind keine Chance haben. Da sind wir uns sicher.

Welche Ziele haben Sie sich für dieses Jahr gesetzt?

Zunächst sollte nochmal betont werden, dass der türkische Staat ein Staat ist, der einen Spezialkrieg führt. Als die Freiheitsguerilla Kurdistans den Vorstoß vom 15. August 1984 unternahm, hieß es auch schon: ‚Das ist nur eine Handvoll Personen, die wir vernichten werden‘. Inzwischen führen wir seit 37 Jahren einen Guerillakampf, demgegenüber fällt immer wieder dieser eine Satz, mit dem es natürlich darum geht, den nationalistischen Mob zu motivieren. Ja, der türkische Staat führt mit Unterstützung der NATO seit Jahren einen Krieg, den er aber nicht gewinnen kann. Er kämpft gegen Zahlen. Laut einer gewissen Person seien seit Jahren in ein und demselben Guerillagebiet ‚nur noch‘ so und so viele Kämpfende übrig. Fakt ist, dass die Guerilla entgegen den Wunschvorstellungen dieser Mentalität, die meint, unsere Lebensdauer vorauszusagen, mit jedem Jahr an Stärke gewinnt, wirksamere Aktionen realisiert und noch größere Kriege führt. Das sollten wir uns alle vor Augen führen.

Natürlich haben wir auch Defizite. Hätten wir unser Handeln entsprechend der Perspektiven von Rêber Apo hinsichtlich der neuzeitlichen Guerilla tiefgreifend analysiert, wären uns in diesem Krieg heute weit größere Erfolge gelungen. Uns sind diese Mängel bewusst. Bei unserer Jahresversammlung haben wir dahingehend intensive Selbstkritik geübt. Ich persönlich glaube fest daran, dass uns als Guerilla große Schritte gelingen werden, solange sich unsere Selbstanalyse an den Perspektiven von Abdullah Öcalan orientiert. Von diesem Standpunkt aus betrachtet wird 2021 zweifellos ein sehr wichtiges Jahr für uns werden. Wir sind auch fest von der Unterstützung der Bevölkerung für die Guerilla sowie der Strategie des revolutionären Volkskrieges für den Sieg überzeugt. Unser primäres Ziel ist es, die Isolation zu durchbrechen und Rêber Apo zu befreien. Mit all unserer Existenz glauben wir daran, dieses Ziel zu erreichen. Es kann und muss uns gelingen. Denn ohne ihn wird es eine Lösung der Probleme des kurdischen Volkes nicht geben, das wissen unsere Menschen. Im Moment wird unser Vorsitzender allerdings von der Außenwelt abgeschottet, es besteht keinerlei Kontakt zu ihm. Der Feind versucht mittels Isolation unser Volk und die Guerilla zu demoralisieren und beide voneinander zu trennen. Der Umgang mit Rêber Apo ist unmittelbar mit dem Umgang mit der gesamten kurdischen Bevölkerung verbunden. Momentan wird er isoliert, deshalb empfindet das Volk dieselbe Isolation. In den Gefängnissen gibt es Widerstand dagegen, der auch jetzt andauert. Es ist ein Hungerstreik, der stattfindet. Bei dieser Gelegenheit möchte ich den Kampf dieser Weggefährtinnen und Weggefährten grüßen. Sie wissen ebenfalls: Ist Serok Apo in Isolation, so sind auch sie es. Denn die Würde des kurdischen Volkes wird von ihm repräsentiert.  

Aus diesem Grund besteht 2021 unsere Hauptaufgabe in der Befreiung von Abdullah Öcalan. Wir sehen seine Freiheit als Grundlage unseres Kampfes an. Dieser Kampf wird bis zur physischen Befreiung von Rêber Apo andauern. Wir werden dieses Widerstandsjahr auf Grundlage moderner Guerillataktiken gestalten und den Feind aus Kurdistan vertreiben. Wir wissen, dass dieser Feind weiter an der Umsetzung seines Vernichtungsplans arbeitet und mittels Unterdrückung unseres Volkes neue Angriffe gegen die Guerilla durchführen wird. Dennoch wird er keine Ergebnisse erzielen. Selbst wenn nur der Schatten der Guerilla übrigbleibt, wird der türkische Staat Kurdistan nicht mehr passieren können.

2020 wurde unser Widerstand von wertvollen Freundinnen und Freunden wie den Kommandanten Egîd Civyan, Zin Cizre, Yılmaz Dersim, Agit Garzan, Amara Batman, Bargiran Erkendî, Kasım Engin und Leyla Van angeführt. Im Gedenken an sie werden wir uns in diesem Jahr mit einer neuen Offensive den Reihen der Revolution anschließen. Mit neuzeitlichen Taktikten und Methoden wird der Sieg uns gehören. Denn es gibt keinen anderen Weg für uns als den Sieg. Es ist die türkische Besatzerarmee, die in unsere Heimat eingedrungen ist und die es zu vertreiben gilt.

Die Werte unseres Volkes verteidigen

Der Feind übt eine intensive Spezialkriegspolitik gegenüber unserem Volk aus, deren letztes Stadium etliche Vergewaltigungsfälle sind. Hinzu kommen die Spitzelanwerbeversuche. Mit solchen Methoden will der Feind die Würde des kurdischen Volkes mit Füßen treten und ihm seine revolutionären und patriotischen Gefühle nehmen. Die Leichen unserer gefallenen Freundinnen und Weggefährten sind von diesem Feind verschleppt und in Istanbul unter einem Gehweg begraben worden. Eine Gefallenenmutter hat die Überreste ihres Sohnes per Post in einem Karton erhalten. All diese Taten bezwecken die Beseitigung der existenziellen Werte des kurdischen Volkes.

Als Freiheitsguerilla Kurdistans lautet unsere Botschaft, dass alles Erdenkliche getan werden muss, um die Grundwerte des kurdischen Volkes zu schützen. Der Feind tötet Tag für Tag die Angehörigen unserer Gesellschaft und greift ihre Werte an. Dagegen muss sich das Volk erheben. Es darf diese Verbrechen nicht hinnehmen. Solange unsere Menschen dem Widerstand der Guerilla voll und ganz beistehen, ist es nur noch eine Frage der Zeit, bis wir den Feind ein für alle Mal aus Kurdistan vertreiben.