Neuer Online-Lesekreis zur Geschichte Europas

Der Online-Lesekreis Hannover hat das Buch „Soziologie der Freiheit“ von Abdullah Öcalan abgeschlossen und startet ein neues Projekt zur Auseinandersetzung mit dem Patriarchat im historischen Kontext. Interessierte sind herzlich eingeladen.

Im vergangenen Jahr wurde von NAV-DEM Hannover e.V. ein überregionaler Online-Lesekreis gegründet. Einmal wöchentlich wurde das Buch „Soziologie der Freiheit“ von Abdullah Öcalan gemeinsam gelesen und diskutiert. Nach dem erfolgreichen Abschluss des Buches startet an diesem Mittwoch ein neues Projekt. Der Lesekreis will sich ab 19.30 Uhr unter historischen Gesichtspunkten mit dem Patriarchat auseinandersetzen und dabei an Mythen, Erzählungen und der Geschichte von Stammesföderationen anknüpfen. Interessierte sind unter dem Link https://meet.systemli.org/Lesekreis_SoziologieDerFreiheit zur Teilnahme eingeladen.

Der Lesekreis teilt dazu mit: „Nachdem wir mit ,Soziologie der Freiheit' den dritten Band von Öcalans Manifest der demokratischen Zivilisation gemeinsam zu Ende gelesen haben, stellen sich viele Fragen: Welche Geschichte hat Europa? Welche Form des Lebens gab es hier in der langen Zeit der natürlichen Gesellschaft? Wie ist hier das Patriarchat entstanden? Was hat das alles mit der eigenen Person zu tun und wie beeinflusst sind wir persönlich vom Patriarchat?“

Um diesen Fragen nachzugehen, wird jetzt gemeinsam ein Reader gelesen, der Diskussionsergebnis aus den Recherchearbeiten einer Geschichtswerkstatt ist. In den vergangenen vier Wochen beschäftigten wir uns ausführlich mit Stammesgesellschaften in Mitteleuropa und in diesen Zusammenhang hinterfragten wir die klassische Geschichtsschreibung, die vom Patriarchatsdenken und der damit verbundenen Herrschaft stammt.

Um die Geschichte aus der Perspektive des Widerstands kennenzulernen, beschäftigten wir uns mit den Mythen und Erzählungen, die bis heute in Form von Märchen und Schriften wie der Edda in unsere Zeit hineinreichen.

In der Freiheitsbewegung Kurdistans gibt es das Selbstverständnis, sich in die Tradition der Muttergöttin zu stellen und sich so die Geschichte neu anzueignen. Abdullah Öcalan verschriftlichte seine Gedanken, Analysen und Bewertungen hierzu in seine Verteidigungsschriften. Auch viele andere in Kurdistan lebende Autor*innen folgten dem Beispiel.

Um die Geschichte in allen ihren Dimensionen ganzheitlich zu verstehen, ist es wichtig, sich die Mythen und Erzählungen der Stämme, Stammesföderationen etc. anzuschauen, die seit Generationen überliefert werden. Auch ist es wichtig, die klassische Geschichte zu behandeln und zu hinterfragen, wie die Kriegsherren ihrer Zeit ihre Feinde beschrieben haben. Das gilt natürlich auch für die jetzige Zeit. Auch archäologische Befunde aus der Zeit vor dem Patriarchat helfen bei der Neuinterpretation. Wir haben uns mit der Entstehung des Patriarchats und der Zurückdrängung des Matriarchats in Europa mythologisch und historisch beschäftigt. Bei den Mythen in Europa gibt es die Erzählung von einem Sohn, der die Muttergöttin ermordet, was den Sieg des Patriarchats bedeutet und damit einen Bruch mit der Geschichte vorher gleichkommt. Auch können wir gut bei der Entstehung des Christentums erkennen, wie die Symbolik der drei Muttergöttinnen (Junge Frau im Himmel, Mutter auf der Erde und alte weise Frau in Höhlen oder unter Wasser) Stück für Stück durch das Patriarchat umgeschrieben wurde. An Stelle der drei Muttergöttinnen wurden mit der Zeit die patriarchalischen drei Figuren Heiliger Geist, Vater und Sohn gesetzt. Später werden die drei Mannesfiguren zu einer Figur zusammengefasst, was wir als die monotheistische Religion definieren können. In der germanischen Mythologie gibt es ähnliche zwei Gött*innengeschlechter. Das sind zum einen die Wanen und zum anderen die Asen. Auch in der germanischen Mythologie gibt es das Motiv des Muttermordes. Selbst die Edda, die ca. 1000 Jahre nach Beginn der Zeitrechnung von einem Christen verschriftlicht wurde, enthält drei Frauenrollen, die darin als drei Brunnen umgedeutet werden.

Die Archäologin Marija Gimbutas hat eine vierzigtausendjährige Geschichte durch den Bruch mit dem Patriarchatsverständnis allein durch die Interpretation der Befunde aus der Perspektive der Frau sichtbar gemacht. Ihre Erklärung ,Die Geschichte ist weiblich' zeugt davon.

Das Märchen von Frau Holle kennen heute viele. Aber der Kern und die Entstehung des Kampfes von Frau Holle bleiben teilweise heute immer noch im Verborgenen. Schaut man sich die Mythen über Frau Holle an, versteht man umso mehr, dass es um Ethik und Moral geht, um Verhaltensweisen, die erstrebenswert sind. Die Mythen richten sich klar gegen den Egoismus. Vor allem sieht man auch, dass es gegen die patriarchale Gewalt geht.

Insgesamt gibt es sehr starke Parallelen zur Geschichte des Mesopotamien. Auch in Europa gab es eine sehr lange Zeit und Tradition des kollektiven Lebens in Form von Stammesgesellschaften, die wir als das Zeitalter des Matriarchats (des natürlichen Lebens) bezeichnen können. Klassische Familien- und Geschlechterbilder, wie wir sie heute kennen (also Mann und Frau), gab es so nicht. Die uns bekannte Geschichte der Stammesgesellschaft der Germanen, die zur Zeit der Übergangsphase vom Zurückdrängen der natürlichen Gesellschaft zum Patriarchat gelebt haben, sind sehr lehrreich. Anhand des Beispiel der Germanen kann man sehr gut ein Verständnis entwickeln, wie ein anderes Leben, welches auf Kollektivität, Solidarität und Gesellschaftlichkeit basierte, hier in Europa möglich war und auch heute möglich sein kann, aber vom Patriarchat (den Kriegstreibern des römischen und später Fränkischen Reiches) zerstört worden ist. Auch ist uns beim Lesen des Readers immer klarer geworden, in welcher Form diese Kollektive heute noch zu finden sind und trotz der Entstehung des Patriarchats und später des Nationalstaats und Kapitalismus noch vorhanden sind.“