Kurdische Kulturtage in Nürnberg: Die eigene Identität sichtbar machen

Das Medya Volkshaus in Nürnberg hatte zum 13. Mal zu Kurdischen Kulturtagen eingeladen. Wieder gelang es dem Kulturkomitee ein abwechslungsreiches und spannendes Programm aufzustellen, das die Breite kurdischen Lebens widerspiegelte.

Was hat man nicht alles ausprobiert, um die kurdische Freiheitsbewegung in Europa und anderswo zu zähmen? Mal versucht man es mit Totschweigen und Isolation, mal wird die Kiste staatlicher Repression ausgepackt. Doch die Hoffnung, der kurdische Kampf um Selbstbestimmung würde irgendwann aufgegeben, hat sich nicht erfüllt. Das beweisen auch Veranstaltungen wie das gestern zu Ende gegangene Kurdische Kulturfestival in Nürnberg. An vier Tagen konnte man die Lebendigkeit der kurdischen Selbstorganisation spüren.

Eröffnungskonzert von Koma Hîvron

Nach Darbietungen der Folkloregruppen im Medya Volkshaus folgte das Eröffnungskonzert der Gruppe Koma Hîvron mit dem Sänger und Gitarristen Nusret Imir („Hîvron“). In Cizîr (tr. Cizre) geboren und in Êlih (Batman) aufgewachsen überzeugte er mit Kompositionen eigener Gedichte und Interpretationen traditioneller kurdischer Werke, wie zum Beispiel die uralte Liebesgeschichte „Mem û Zîn” des kurdischen Philosophen Ehmedê Xanî. Niemanden im vollbesetzten Konzertsaal lässt das Drama von Mem û Zîn kalt, steht es doch gleichsam für die Geschichte Kurdistans. Hîvron singt nur auf Kurmancî, er fände es „seltsam“, wenn kurdische Musiker ihre Kunst auf Türkisch präsentierten. Er konzentriert sich darauf, der kurdischen Musik den Platz zu geben, den sie verdient. Musikalisch gelingt ihm sehr überzeugend eine Synthese kurdischer und westlicher Stilelemente.

Kinotag: „Gava Şitil Mezin Dibin“ gleich zweimal gezeigt

Der zweite Tag des Festivals ist immer Kinotag. Gezeigt wurde dieses Jahr „Gava Şitil Mezin Dibin“ (dt. Wo die Sämlinge wachsen) des Regisseurs Rêger Azad Kaya von der Filmkommune Rojava. Der mehrfach auf internationalen Festivals ausgezeichnete Film beschreibt einen Tag in Kobanê. Hüseyin und seine Tochter Zelal wollen in der Stadt Joghurt verkaufen und begegnen dem kleinen Hemudê, der sein Zuhause sucht. Der Film zeigt ungeschminkt und jenseits von Pathos, wie sich die Gesellschaft nach der Revolution sortiert. Die Organisation des Alltags, die Gespräche und kleinen Gesten vermitteln einen Eindruck, welche Werte jetzt gelten: füreinander da sein, sich Zeit nehmen, gemeinsam und kreativ Probleme lösen… Aufgrund des großen Interesses wurde der Film zweimal gezeigt. Nach der Vorführung bildeten sich kleine Gruppen, die das Gesehene kommentierten und diskutierten.

Şehbal Şenyurt Arınlı, Osman Baydemir und İbrahim Çiçek reden über kurdische Frage

Weiter ging es am nächsten Tag mit einer Podiumsdiskussion, bei der aus verschiedenen Perspektiven die gegenwärtige politische Lage und Lösungen der sogenannten „kurdischen Frage“ erörtert wird. Die vielleicht gewichtigste Stimme dazu ist seit 1999 auf der Gefängnisinsel İmralı weggesperrt. Deshalb zeigte man vor der Diskussion einen Filmclip der Internationalen Initiative „Freiheit für Öcalan – Frieden in Kurdistan“. Persönlichkeiten aus vielen Ländern fordern mit unterschiedlichen Begründungen die Freiheit von Abdullah Öcalan. Gleichzeitig wurde auf die jüngst erschienene Graphic Novel über das Leben des 75-Jährigen verwiesen, die auf dem Büchertisch auch erworben werden konnte.

Als Moderator auf dem Podium konnte Ercan Ayboğa gewonnen werden. Er ist Autor, Aktivist der ökologischen Bewegung Kurdistans und Mitarbeiter der Rosa-Luxemburg-Stiftung und führte geschickt durch den Abend.

Die Menschenrechtsaktivistin, Filmemacherin und Schriftstellerin Şehbal Şenyurt Arınlı sieht die heutige Verfasstheit der Türkei schon in der Staatsgründung angelegt. Menschenrechtsverletzungen, Rassismus und Kriegspolitik hätten ihre Wurzeln im Nationalstaat des Mustafa Kemal, in dem nicht die kulturelle, sondern eine nationale Identität als „zugehörig“ definiert wurde.

Der Journalist und Autor der Zeitschrift „Marxistische Theorie” İbrahim Çiçek beschrieb den Zustand der politischen Linken in der Türkei und betonte die Notwendigkeit von breiter antifaschistischer Bündnispolitik, wie sie im „Demokratischen Kongress der Völker“ (HDK) versucht wurde.

Der ehemalige HDP-Abgeordnete und Bürgermeister von Amed, Osman Baydemir, war dritter Referent. Da er von Großbritannien kein Ausreisevisum erhielt, nahm er per Videoschalte teil. Nach einem Gruß an die politischen Gefangenen ging er auf seinen Vorredner und die damals von Öcalan begrüßte Gründung des HDK ein. Er kritisierte dabei die Konkurrenz der dort zusammenarbeitenden Organisationen, die oft nur eigene Interessen verfolgten. Anschließend bewertete er die letzten Kommunalwahlen und die Erfolge der DEM-Partei, die ebenfalls ein Zusammenschluss der kurdischen Bewegung und türkischen Kräften sei. Es käme jetzt darauf an, zusammen die Demokratisierung anzugehen und die Selbstverwaltung mit den gewählten Bürgermeister:innen zu unterstützen.

Exilanten fällt Rolle von Vermittlern zu

Da alle drei Referent:innen heute im europäischen Exil leben, thematisierte Ayboğa die Rolle und die Aufgaben der Exilanten in der Diaspora. Arınlı beschrieb ihre Situation so: Man lebt zunächst alleine, abgekoppelt vom Geschehen in der Heimat, die sich weiterentwickelt. Die Augen und Ohren sind dort, aber man lebt hier, trifft auf verschiedene Lebensmodelle, versteht die Sprache nicht. Es ist hart… Alle Referent:innen waren sich einig, dass den Exilanten die Rolle von Vermittlern zufalle. Sie hätten den Schlüssel, um Türen zu öffnen hinein in die Gesellschaft, in der sie jetzt leben. Gleichzeitig, so betonte Baydemir, sei es unerlässlich, dass die kurdische Diaspora Sprache und Kultur an die nächste Generation weitergibt und die Selbstorganisation stärkt.

Auf eine Stimme aus dem Publikum, die Kämpfe um Mindestlohn in Nürnbergs Südstadt und in der Çukurova seien ähnlich, Rassismus und Faschismus hier wie dort eine Bedrohung, antwortete Arınlı, das Potential der Diaspora wäre groß, und es sei Aufgabe der Intellektuellen im Exil, in die Gesellschaft hineinzuwirken. Baydemir ergänzte, manche verkrustete Organisationsstrukturen bedürften einer Erneuerung. Er verwies auf den Widerstand von Wan, wo sich die Gesellschaft dem Versuch des Staates widersetzte, einen Zwangsverwalter zu installieren. Das sei auch ein Beispiel für die Gesellschaft hier.

Konzerte von Lawje und Sherîf Omerî

Abschluss der 13. Kurdischen Kulturtage war das Open-Air-Konzert. Ali Tekbaş und seine Gruppe Lawje aus Colemêrg (Hakkari) überzeugten mit ihrer Darbietung von Werken der Dengbêj-Tradition, die sie am Leben erhalten wollen. Viele ihrer Lieder regten zum Mitsingen an und bald begannen die Kreistänze. Als danach der syrisch-kurdische Rapper Sherîf Omerî die Bühne betrat, feierten vor allem die zahlreichen jugendlichen Zuhörer:innen frenetisch ihren kurdischen Hiphop.

„Rêber Apo“ lebt in den Herzen

Das Resümee der Festivalleitung: Wieder einmal gelang es, auf dem schönen Gelände des kommunalen Kulturzentrums Villa Leon vier Tage lang die Vielfalt der Kurdischen Kultur zu zeigen. Die Besucher:innen ließen sich mitreißen von den Klängen der Musikdarbietungen. Alt und Jung tanzten, feierten, diskutierten mit den internationalen Gästen. Die üppigen Buffets, für die tagelang gekocht und gebacken wurde, ließen niemanden hungrig zurück. Und niemals wurde vergessen, wem der Erhalt kurdischer Identität bis heute zu verdanken ist. Mag der deutsche Staat auch versuchen, den Begründer der Freiheitsbewegung unsichtbar zu machen, „Rêber Apo“ lebt in den Herzen. Ebenso wie die Freiheitsguerilla, die in den Bergen Kurdistans Widerstand leistet und an die immer wieder Grüße gingen: „Bijî berxwedana gerîla“.

Gewidmet der Hûnergeha Welat

Gewidmet war das diesjährige Festival der Kunst- und Kulturgemeinschaft Hûnergeha Welat aus Rojava. Mit ihren Werken versteht sich die Gruppe als Hüterin kurdischer Kultur, in der sich schon immer der gesellschaftliche Wille nach einem freien Leben manifestierte. Kurdische Identität sichtbar machen ist auch das Ziel dieses und zahlreicher anderer Festivals in der Diaspora – sowohl mit Blick nach außen und aller Repression zum Trotz als auch nach innen, um im kalten Exil den gesellschaftlichen Zusammenhalt lebendig zu halten.