YPG-Sprecher: Efrîn kann sich selbst verteidigen!

Im Folgenden veröffentlichen wir ein Interview des Analysten Aymenn Jawad Al-Tamimi mit dem Sprecher der YPG Nouri Mahmoud. Schwerpunkte des ersten Teils sind die Anfänge und Entstehung der YPG, die Ziele der QSD sowie die jüngsten Angriffe auf Efrîn.

Das Interview wurde am 19. Januar 2018 in der Nähe von Qamişlo geführt und von der ANF-Redaktion frei übersetzt. Schwerpunkte des ersten Teils der Diskussion sind die Anfänge und Entstehung der Volksverteidigungseinheiten (YPG), die Ziele der Demokratische Kräfte Syriens (QSD) sowie die jüngsten Angriffe der Türkei auf Efrîn.

Al-Tamimi: Können Sie mir einleitend erzählen, wann die YPG gegründet wurde, welche grundlegenden Ziele sie verfolgt sowie in welchen Regionen sie gekämpft hat und wie viele Märtyrer*innen sie bis heute hat?

Mahmoud: Mit Beginn der Revolution begann die Gründung der YPG: junge Männer und Frauen haben sich verpflichtet gefühlt die Gesellschaft zu schützen; es begann auf der Straße. Dies erforderte die damalige Sicherheitssituation in Syrien. Zunächst schützten wir nur unsere Gebiete und Straßen. Anschließend diskutierten wir mit der Gesellschaft über den Aufbau von Räten und die ersten Projekte unter unserem Schutz wurden aufgebaut. Das war, mehr oder weniger, im Jahre 2012, bis heute. Diese Entwicklung verlief von der Straße in Stadt und von der Stadt bis nach Nordsyrien.

Wir können sagen, dass wir mit einem Entwurf von der Straße kamen und die Städte erreichten. In den Städten wurde das Projekt weiterentwickelt. Es wurde ein System geschaffen, in der die Gesellschaft nach den Lösungen für ihre Probleme sucht. Es bildete sich das System der Kantone. Und danach können wir sagen, dass es jetzt ein anderes Projekt gibt: das föderale System im Norden Syriens mit den Gebieten, die von den QSD geschützt werden. Und wir als Volks- und Frauenverteidigungseinheiten (YPG und YPJ) sind Teil dieser Einheiten. Nach dem Ende des Islamischen Staates (IS), insbesondere in Raqqa, gibt es jetzt ein anderes Projekt für ganz Syrien. Es ist ein politisches Projekt: der Demokratischer Rat Syriens, mit dem Ziel der Demokratisierung von Damaskus oder im allgemeinen Syriens.

Was die Anzahl der Märtyrer*innen angeht, können wir sagen, dass wir Tausende von Märtyrer*innen haben, mehr als 50.000. Die Verluste der QSD liegen zwischen 50.000 und 70.000 Kämpfer*innen.

Tamimi: Aber die YPG ist doch die Hauptkomponente der QSD?

Mahmoud: Es ist die Hauptkraft, aber nicht die Hauptkomponente. Die Hauptkraft YPG und YPJ haben seit Beginn (der Revolution) entweder Krieg geführt oder Gebiete verteidigt. In der Tat haben wir in Serêkaniyê (Ras al-Ayn) und Kobanê die Gesellschaft und die Errungenschaften der Revolution verteidigt und es ist uns gelungen, die terroristischen Gruppen zu besiegen, insbesondere jene, die von der Türkei unterstützt wurden. Zum ersten Mal waren wir in Kobanê in der Lage den IS zu stoppen. Bevor der IS Kobanê erreichte, verkündete er, trotz der Existenz von dutzenden Armeen in der Region wie der des syrischen Regimes, der iranischen, irakischen, türkischen Armee und sogar der Peşmerge, sein Kalifat in Raqqa. Alle diese Armeen waren präsent. Trotz dieser Präsenz proklamierte der IS seine Terrororganisation und erreichte eine Grenze mit Bagdad und eine Grenze mit Damaskus. Der IS proklamierte sich in vielen anderen Staaten im Mittleren Osten und übte Terroranschläge in Asien und Europa und erreichte mit dieser Expansion Kobanê. In Kobanê bewiesen wir als YPG und YPJ zum ersten Mal der Welt, dass es möglich ist der größten globalen Terrororganisation gegenüberzustehen und diese mit der Zeit auch zu besiegen. Wir haben starke Erfahrungen bei der Bekämpfung vom globalen Terrorismus. Und wir können sagen, dass die QSD und ihre Einheiten nach den Kämpfen in Raqqa und jetzt in Deir al-Zor Erfahrungen gesammelt haben. Aber am Anfang waren wir als YPG und YPJ die Erfahrenen im Kampf gegen den IS. Deshalb waren wir ein wichtiger Teil innerhalb der QSD. Aber jetzt können wir sagen, dass die QSD eine Einheit ist, die sich aus allen Komponenten im Norden Syriens zusammensetzt. Sie ist die einzige Kraft, die die Gesellschaft schützen kann. Unter ihrem Schutz hat die Gesellschaft die Möglichkeit, ihre Projekte zu entwickeln, angefangen bei den Volksräten bis zu der heutigen Föderation im Norden Syriens und dem Vorschlag einer politischen Lösung für ganz Syrien im Rahmen des Demokratischen Rates Syriens.

Tamimi: Wie groß ist der Anteil der YPG innerhalb der QSD? Ungefähr 80 Prozent? Oder kennen Sie die genaue Prozentzahl nicht?

Mahmoud: Wir definieren uns weder über Prozente noch rechnen wir auf dieser Grundlage. Wir sind eine syrische Gesellschaft und wir haben Verantwortung zu tragen. Das ist Syrien, unsere Heimat. Wir sind jederzeit bereit jeden Zentimeter von Syrien zu schützen, egal wo es liegt.

Tamimi: Es gibt jetzt eine Intervention der Türkei gegen die Region Efrîn. Wie wird die YPG auf diese Angriffe reagieren? Wird die YPG z. B. Verstärkung aus Cizîrê und Kobanê nach Efrîn schicken?

Mahmoud: Efrîn ist in der Lage sich selbst zu schützen. Ich weiß nicht, ob Sie die Entwicklungen in Efrîn verfolgen, aber gestern haben wir gesehen, dass Kinder, Geistliche, Frauen und Jugendliche aus Efrîn in den Straßen waren und bekundet haben, dass sie Efrîn mit all ihrer Kraft beschützen wollen. Ferner haben die Menschen gesagt, dass die türkische Autorität verstehen muss, dass es kein Unterschied zwischen Kobanê und Efrîn gibt und dass der Kampf und der Widerstand um Efrîn größer sein werden als in Kobanê. Daher ist Efrîn in der Lage sich selbst zu verteidigen. Efrîn hat seine Berge und seine Menschen. Auch die YPG, Jaysh al-Thuwar und andere Einheiten sind in der Region präsent: Sie alle werden Efrîn beschützen. Und vor Efrîn hat die momentane türkische Autorität und die mit ihnen verbundenen Banden des „Schutzschildes Euphrat“ einen Angriff auf Ein Daqna gestartet und ist bei diesem Test gescheitert.

Tamimi: Ein ehemaliger pro-PKK Abgeordneter im syrischen Parlament hat gegenüber der regimetreuen al-Watan gesagt, dass die beste Lösung für Efrîn darin besteht die Flagge der Arabischen Syrischen Republik zu hissen und die YPG muss…

Mahmoud: Stellen Sie mir nicht Fragen über Leute, die scherzen oder Narren sind. Was diese Personen sagen oder denken interessiert mich nicht.

Tamimi: Nicht über die Person, aber…

Mahmoud: Die Arbeiterpartei Kurdistan oder PKK. Ich möchte nicht wissen, was sie sagen.

Tamimi: Sicher. Aber was halten Sie von dem Vorschlag die syrische Flagge über Efrîn zu hissen, um eine türkische Intervention zu verhindern?

Mahmoud: Das Problem des syrischen Volkes ist nicht die syrische Flagge sondern das derzeitige Regime, das sich ändern muss. Die Menschen haben nach Freiheit und Demokratie geschrien. Sie haben nicht für dieses Regime, für diese Person, für diese Seite oder für diese Partei geschrien. Das syrische Volk verlangt nach Freiheit und Demokratie. Wir beschützen dieses Volkes, damit es Freiheit und Demokratie erlangen kann.

Tamimi: Sagen Sie, dass die Lösung für die Krise in Syrien im Allgemeinen die Entmachtung von Bashar al-Assad ist?

Mahmoud: Die Entmachtung und die Demokratisierung des Regimes hängen von der Gesellschaft und ihren Menschen ab. Das Volk soll herrschen. Es ist nicht meine Meinung. Ich möchte nicht, dass meine Meinung oder die einer anderen Partei angewendet wird: Ich möchte, dass man auf die Gesellschaft zugeht und deren Meinung anwendet. Wenn die Gesellschaft will, dass Bashar al-Assad regieren soll, dann gut. Aber was wir in Deir ez-Zor sehen ist folgendes: Das Regime rühmt damit, dass es Deir ez-Zor, Mayadeen und Albukamal und jene Regionen befreit hat, aber die dortigen Menschen unterstützen uns und sind mit uns. Mehr als 500.000 Menschen – eine knappe halbe Million Deiri-Bürger – sind nach Nordsyrien unter der Kontrolle der QSD geflohen, aufgrund der Regime-Präsenz in Deir az-Zor. Wenn dieses Regime der Repräsentant des syrischen Volkes wäre, würde dann die Bevölkerung aus Deir az-Zor fliehen und dann in den Gebieten unter der Kontrolle der QSD Zuflucht suchen? Deshalb wollen wir, dass die Gesellschaft nach ihrer Meinung gefragt wird, damit die Ziele des Volkes, welches Freiheit und Demokratie heißen, verwirklicht werden können.

Tamimi: Die einzige Lösung sind Wahlen ohne Einschränkungen und dass das Volk die Autorität selbstbestimmt…

Mahmoud: Ja. Natürlich ist Syrien an dem Punkt angekommen, wo sich eine Kraft wie die QSD gebildet hat, die aus allen Komponenten und Glaubensbekenntnissen besteht. Diese Einheit hat es geschafft in den von ihr kontrollierten Gebieten Möglichkeiten zu eröffnen, um Institutionen aufzubauen wie die der Legislative und Sicherheit. So hat das Volk mehr Institutionen in den Gebieten etabliert als das Regime. So wird in Syrien Freiheit und Demokratie verwirklicht.

Tamimi: Wie sind die Beziehungen der YPG zur Russland und den USA im Allgemeinen?

Mahmoud: Wir haben mehrmals verkündet, dass wir – vor allem mit den USA und der Internationalen Koalition (Großbritannien ist auch Teil dieser Internationalen Koalition) – eine Strategie entwickelt haben, dem IS ein Ende zu setzen. Diese strategische Zusammenarbeit begann in Kobanê und wird heute in Deir az-Zor fortgesetzt und wird dort beendet werden. Nach den Entwickelungen und den Erfolgen haben viele Armeen und Streitkräfte inklusive des syrischen Regimes unsere Siege für sich proklamiert und behaupten siegreich zu sein, aber das syrische Volk steht uns bei. Und nachdem wir dem IS ein Ende gesetzt haben, werden wir ein neues Abkommen und eine neue Strategie entwickeln: Wir wollen Stabilität nach Syrien bringen und sichern.


(Im zweiten Teil des Interviews folgen die Beziehungen mit den internationalen Mächten wie die USA, Russland und dem Iran sowie das Unabhängigkeitsreferendum in Südkurdistan/Nordirak vom September 2017.)

Das Interview erschien am 24.01.2018 auf der persönlichen Internetseite von Aymenn Jawad Al-Tamimi http://www.aymennjawad.org/2018/01/interview-with-the-ypg-spokesman. Al-Tamimi schreibt regelmäßig für die US-Think Tank Middle East Forum.