YPG-Sprecher: Efrîn kann sich selbst verteidigen! Teil II

Im Folgenden veröffentlichen wir Teil II des Interviews des Analysten Aymenn Jawad Al-Tamimi mit dem Sprecher der YPG Nouri Mahmoud.

Im Folgenden veröffentlichen wir den zweiten Teil des Interviews des Analysten Aymenn Jawad Al-Tamimi mit dem Sprecher der Volksverteidigungseinheiten (YPG) Nouri Mahmoud. Das Interview wurde am 19. Januar 2018 in der Nähe von Qamişlo geführt und wurde von der ANF-Redaktion frei übersetzt. Schwerpunkte des zweiten Teils sind die Beziehungen mit den internationalen Mächten wie den USA, Russland und dem Iran, die Situation der Bevölkerung im Bezirk Sheikh Maqsoud von Aleppo sowie das Unabhängigkeitsreferendum in Irakisch-Kurdistan im September 2017.

Tamimi: Und glauben Sie, dass die USA in Syrien bleiben und Ihnen bei der Verwirklichung des Stabilitätsprojekts helfen werden?

Mahmoud: Bis jetzt sind wir und die Amerikaner*innen uns einig darüber, dem IS und dem Terrorismus ein Ende zu bereiten und jegliche Unterdrückung von der Gesellschaft fernzuhalten, selbst wenn einige Akteure in der Region anderer Meinung sind. Aber wir sind uns darin einig, dem Terrorismus ein Ende zu setzen, Stabilität zu bringen und jegliche Unterdrückung oder jeden Angriff von dieser Gesellschaft fernzuhalten, die dem größten Terrorismus der ganzen Welt widerstand und die [Last der] ganze[n] Welt in dieser Region trug. Ich denke, dass wir, die Amerikaner*innen und die internationale Anti-IS-Koalition großartige Arbeit geleistet haben und noch viel Größeres meistern können. Aber unsere jetzige Strategie ist die Stabilität Syriens, und in der Zukunft, ob wir nun beieinander bleiben oder nicht, bin ich mir sicher, dass wir Großartiges für die Zukunft Syriens unternehmen werden und dass Syrien zu einem Modell des Mittleren Ostens werden und der Ausgangspunkt für den globalen Frieden sein wird, so Gott will.

Tamimi: Wenn morgen die Regierung in Damaskus beschließt, die föderalen Gebiete von Nordsyrien als offizielles föderales Gebiet innerhalb Syriens anzuerkennen, wäre das für Sie ein Problem?

Mahmoud: Wir haben kein Problem damit. Wir sind bereit, darüber zu diskutieren, und wir wollen keine Teilung Syriens. Wir wollen keine neuen Grenzen ziehen, sondern werden durch die bestehenden Grenzen zerrissen. Alle Grenzen stellen für uns ein Problem dar. Diese Grenzen, die eine Stadt von der anderen trennen, wie zum Beispiel Qamişlo, das von Nusaybin abgetrennt ist. Meine Schwester oder mein Bruder könnte dort sein und ich hier, aber ich könnte aufgrund der Politik dieser oder jener Autorität nicht in die Türkei. Es geht also nicht um neue Grenzen in Syrien, sondern wir wollen, dass Damaskus demokratisch ist. Wir wollen, dass die Gesellschaft in diesem Staat eine freie Gesellschaft ist, die einen freien Willen hat.

Tamimi: Haben Sie irgendwelche Beziehungen zu Russland, und welche Rolle spielt Russland bei den aktuellen Ereignissen in Efrîn?

Mahmoud: Wir betrachten Russland als einen großen Staat, der eine positive Rolle in Syrien spielen muss und nicht nur seine eigenen Interessen verfolgen darf. Es muss sein globales Zentrum berücksichtigen und entsprechend agieren. Aber was wir jetzt in Idlib und Efrîn sehen, ist, dass es Druck auf Russland gibt, da die Türkei um ihre Interessen besorgt ist und Russland im Begriff steht zu akzeptieren, dass die Türkei in Efrîn eingreifen sollte, besonders nach dem Scheitern ihrer Offensive in Idlib vor ein paar Tagen. Die gegenwärtige Autorität hat sich Russland erteilt, Efrîn gegen Idlib einzutauschen. Deshalb sehen wir jetzt an Russland, trotz der Tatsache, dass es einen großen Staat in der Welt darstellt und eine Kraft der Lösung sein muss, dass es mehr um seine Interessen besorgt ist als darum, was es aus Meinungen, Ideen und Projekten entwickelt oder anbietet, die dieser Gesellschaft nützen und dieser Region zugutekommen. Daher ist Russland an diesen Punkten sehr schwach und verfolgt eher die engen als die weiteren Interessen.

Tamimi: Hat sich Russland aus Efrîn zurückgezogen?

Mahmoud: Ich glaube nicht, dass sich Russland aus Efrîn zurückziehen wird.

Tamimi: Sie sind in Efrîn präsent, aber aus der Türkei hieß es, sie würden sich zurückziehen.

Mahmoud: Die heutige Türkei hat eine spezielle Methode der Kriegsführung oder eine Gerüchteküche, mit der sie gezielt Gerüchte, Lügen und Anschuldigungen verbreitet, um der Intervention in Nordsyrien Legitimation zu verschaffen. Die Türkei beschuldigt uns als YPG des Terrorismus, aber wir haben dem größten Terrorismus in der Welt, dem IS und seinem Terror, ein Ende gesetzt. Jeder hochrangige IS-Terrorist, den wir im Krieg gefangen genommen haben, trug den von der Türkei ausgestellten Reisepass mit sich. Und sie beschuldigen uns des Terrorismus! Diese Autorität ist die größte Unterstützerin oder die Quelle des in Syrien proklamierten Terrorismus.

Tamimi: Wollen die YPG immer noch Efrîn mit Kobanê und Cizîrê verbinden?

Mahmoud: Nachdem wir dem IS ein Ende gesetzt haben, setzen wir auf Dialog. Und wir werden unsere Gesellschaft vor jedem Angriff oder jeder Seite schützen. Wir werden unsere Gesellschaft ohne Zögern und mit Opfergeist beschützen. Basierend auf unseren Erfahrungen der letzten Jahre werden wir unsere Gesellschaft bis zum letzten Schuss gegen jeglichen Angriff schützen. Wir wollen keinen Krieg führen, sondern die Sache politisch lösen und und den Raum für die Gesellschaft öffnen, um das Syrien-Problem zu lösen und seine Ziele demokratisch und frei zu erreichen. Wenn sich also irgendeine Seite durch Gewalt und Waffen der Gesellschaft aufzwingen will, werden wir ihr im Weg stehen und unsere Gesellschaft und gesellschaftliche Legitimität, den gesellschaftlichen Rat, die gegenseitige Konsultation der Gesellschaft und das gesellschaftliche Projekt verteidigen. Das wird unsere Haltung sein. Und wir verfolgen kein Ziel, die Grenzen von hier zu öffnen oder diese Stadt von jener Stadt zu trennen, sondern wir wollen, dass Damaskus demokratisch ist und alle Teile Syriens frei sind.

Tamimi: Haben Sie Beziehungen zum Iran? Einige, die die YPG hassen, behaupten, diese würden dem Iran durch die YBŞ (Widerstandseinheiten von Şengal; êzîdische Miliz) helfen, Waffen nach Syrien zu transportieren, um den Iran und dessen Verbündete dort zu unterstützen.

Mahmoud: Der Iran hat die Route eröffnet und hat jetzt den schiitischen Halbmond vom Irak bis zum Libanon, in den er bis zum Mittelmeer alles packen kann, was er behandelt, also braucht er keine andere Route, und der Iran ist der Staat, der ein Hindernis für die Demokratisierung Syriens darstellt. Er steht der Demokratie in Syrien im Wege, um seine Interessen zu schützen, und er sät Krieg und unterstützt den Krieg in Syrien, damit die Sicherheitsstabilität im Iran gewahrt werden kann. [26.01.2017: Geringfügige Korrekturen an Transkript und Auflösung eines scheinbar unhörbaren Teils.]

Tamimi: Es ist die Rede davon, dass die Amerikaner*innen hoffen, dass es möglich sein werde, den Iran aus Syrien zu bekommen, wenn sie in Syrien blieben. Was halten Sie davon?

Mahmoud: Sie stellen mir Fragen, mit denen ich nichts zu tun habe. Warum? Wir arbeiten um der Demokratie und Freiheit willen. Wir wollen keinerlei Feindseligkeit einer Seite gegenüber der anderen. Wir wollen Lösungen, die der Gesellschaft und nicht nur den Autoritäten dienen. Das ist unser Ziel. Und wir fordern, dass sie uns nicht in die globale Politik hineinziehen, in der unsere Gesellschaft keinen Platz hat. Unser Ziel ist sonnenklar: Wir wollen Demokratie und Freiheit, mehr nicht.

Tamimi: Und die Interessen des syrischen Volkes.

Mahmoud: Ja, sicher.

Tamimi: Gibt es gegenwärtig Beziehungen mit der irakischen Regierung?

Mahmoud: Ja. Das ergab sich bei den QSD an den Grenzen und um die Grenzen zu schützen. Das tauchte in den Medien und allgemein auf.

Tamimi: Gibt es Kooperationen mit der irakischen Regierung, um die Grenzen zu schützen?

Mahmoud: Ja, es gibt Kooperation mit der irakischen Regierung zum Schutz der Grenzen.

Tamimi: Fürchten Sie nicht die Hashdi Shaabi?

Mahmoud: Warum sollten wir die Hashdi Shaabi fürchten? (…)

Tamimi: In der Annahme, es sei ein iranisches Projekt, ist das möglicherweise ein Problem?

Mahmoud: Wir haben den größten globalen Terrorismus überwunden: den IS. Der Iran war präsent, die Hashdi Shaabi und alle Armeen. Sie alle verloren Schlachten gegen den IS, aber wir waren siegreich. Und wir bewiesen vor der ganzen Welt, dass wir vor allen anderen siegreich waren, und wir haben der Expansion des IS in Kobanê Einhalt geboten. Keine Kraft kann sich rühmen, dem IS ein Ende gesetzt haben. Der IS erreichte die Grenzen von Bagdad und Damaskus und kündigte sich in vielen Staaten des Mittleren Ostens an und führte terroristische Operationen in Europa und Asien durch. Zum ersten Mal in Kobanê waren es die Jugend und die Mädchen dieser Gesellschaft, die dem IS und seiner Expansion ein Ende setzten, und jetzt machen wir ihm ein Ende, sind an dem Punkt, ihn vollständig zu zerstören:  Das heißt, geografisch setzen wir ihnen ein Ende, und danach werden wir daran arbeiten, den in der Gesellschaft vorhandenen Zellen ein Ende zu machen und der Denkweise, die sie in die Gesellschaft gepflanzt haben. Also wo waren die Hashdi Shaabi?

Tamimi: Es gibt aber Leute, die behaupten, die YBŞ seien mit den Hashdi Shaabi verbunden? Können Sie das widerlegen?

Mahmoud: Ich repräsentiere nicht die YBŞ, sondern die YPG. Sie können die YBŞ dazu befragen.

Tamimi: Es ist schwierig, Kontakt zu ihnen herzustellen: Aber die YBŞ waren mit den YPG verbunden …

Mahmoud: Sie hören mehr die Meinung der Türkei als die der Gesellschaft in Nordsyrien. Ich kritisiere Sie von diesem Standpunkt aus. Nordsyrien hat mehr Institutionen als die Staaten im Mittleren Osten, viele gesellschaftliche Institutionen, ob Frauen-, gesellschaftliche, wirtschaftliche Institutionen, der Bildung, Gesundheit. Aber was wir sehen ist, dass sie Vorwürfe gegen die PYD erheben, behaupten, es gäbe einfache Grundlagen, und [unverständlich] die Bürger*innen des Landes. Aber Sie wissen es. Welche Rolle spielt die PYD in diesem Gebiet? Oder sie sprechen von den kurdischen Kräften, wenn mehr als 50 Prozent der QSD Araber*innen sind. Sie können gehen und es selbst sehen.

Tamimi: Ja, ich habe arabische Kämpfer*innen sogar innerhalb der YPG gesehen.

Mahmoud: Nicht nur Araber*innen. Es gibt Armenier*innen, Assyrer*innen, Tscherkess*innen, Turkmen*innen, Muslime, Êzîd*innen, Christ*innen: Sie sind alle in den QSD vertreten. Sie bestehen darauf und beschuldigen uns der Parteilichkeit oder des Nationalismus.

Tamimi: Ich beschuldige Sie nicht.

Mahmoud: Die Türkei beschuldigt uns. Aber Sie als Journalist*innen scheinen von den türkischen Praktiken und Sichtweisen gegen uns beeinflusst worden zu sein.

Tamimi: Sind Sie aus Qamişlo?

Mahmoud: Ich bin aus Kobanê.

Tamimi: Haben Sie an einer Universität studiert?

Mahmoud: Ich habe nicht an einer Universität studiert. Als ich sechzehn Jahre war, wurde ich für sechs Monate im palästinensischen Bereich inhaftiert, obwohl ich unter dem Mindestalter lag. Seit dieser Zeit bin ich eine Person der Revolution, der kämpft, um Freiheit und Demokratie zu erreichen.

Tamimi: Waren Sie immer in den YPG? Oder vorher in der Freien Syrischen Armee (FSA)?

Mahmoud: Die YPG sind nicht älter als sechs Jahre, aber wir sind aus dem Herzen der Revolutionär*innen.

Tamimi: Wie ist die Situation in Aleppos Viertel Sheikh Maqsoud? Sind die YPG dort präsent?

Mahmoud: Ja.

Tamimi: Gibt es ein Abkommen zwischen Ihnen und der syrischen Regierung?

Mahmoud: Wir schützen Sheikh Maqsoud. Die Gesellschaft im Stadtteil Sheikh Maqsoud will, dass wir sie beschützen. Sheikh Maqsoud hat große Bedeutung und beweist, dass wir Syrer*innen sind und dass wir nicht ein Projekt wie die Barzanîs verfolgen: die Teilung Syriens. Hätten wir die Teilung Syriens gewollt, hätten wir über Sheikh Maqsoud, Rukn al-Din (kurdisches Viertel in Damaskus), Zuhr Ava, Ashrafiye und andere Gebiete hinweggesehen.

Tamimi: Bietet die syrische Regierung öffentliche Dienstleistungen für Sheikh Maqsoud an?

Mahmoud: Die Menschen von Sheikh Maqsoud beschützen sich selbst, während die Armee des Regimes und die mit der Türkei – oder den terroristischen Gruppen – in Verbindung stehenden Söldnerbanden alle Sheikh Maqsoud angegriffen haben. Trotzdem zeigte es den größten Widerstand. Er war stärker als der von Kobanê, aber in den Medien wurde nicht viel darüber gesagt. Doch Sheikh Maqsoud hat vom ersten Tag bis jetzt ohne Unterlass gegen diese oder jene Gruppe Widerstand geleistet und sich verteidigt, um unsere syrische Identität zu schützen.

Tamimi: Ja. Ich frage das, weil vom Hissen der syrischen Flagge in Sheikh Maqsoud die Rede war. Wissen Sie etwas davon?

Mahmoud: Es hieß, wir hätten Sheikh Maqsoud verkauft, oder gekauft, oder wir seien Geschäftsleute geworden … aufgrund unserer Präsenz in Sheikh Maqsoud. Wir sind Syrer*innen und Sheikh Maqsoud ist ein Teil Syriens, ebenso wie Nordsyrien auch Teil von Syrien ist. Wir haben ein Projekt des demokratischen Föderalismus: Es ist ein gesellschaftliches Projekt, von der syrischen Gesellschaft in Nordsyrien diskutiert und nun für Gesamtsyrien vorgeschlagen.

Tamimi: Was ist Ihre Meinung über das Kurdistan-Referendum? War es ein Fehler?

Mahmoud: Es ist Vergangenheit. Wir können sagen, dass es dem Irak geschadet hat. Es war ein abenteuerliches Risiko, nicht für das kurdische oder das irakische Volk, sondern eher für eine Partei oder eine Person.

Tamimi: Sie meinen, für die Interessen Barzanîs.

Mahmoud: Was immer es war. Es war ein abenteuerliches Risiko, nicht in Übereinstimmung mit der herrschenden Mentalität oder der demokratischen [Mentalität] und Freiheit im Irak. Deshalb hat er unter allen Streit gesät. Der Irak hat durch dieses Referendum viel verloren.

Das Interview erschien am 24.01.2018 auf der persönlichen Internetseite von Aymenn Jawad Al-Tamimi: http://www.aymennjawad.org/2018/01/interview-with-the-ypg-spokesman. Al-Tamimi schreibt regelmäßig für den US-Think-Tank Middle East Forum.