Kommentar von Eren Keskin
Die Gründungsideologie der Republik Türkei basiert auf der Annahme einer einzigen Identität. Damit wurde auch die grundsätzliche Unlösbarkeit aller wichtigen Probleme in Kauf genommen. Eines der wichtigsten Probleme war natürlich die kurdische Frage. Die kurdische Frage ist nicht nur ein Problem, welches das Gebiet betrifft, in dem wir leben. Wir betonen immer wieder, dass es ein internationales Problem ist. Es gibt die auf vier verschiedene Staaten, den Iran, den Irak, Syrien, die Türkei verteilten Gebiete Kurdistans, und die Entwicklungen in der gesamten Region beeinflussen und verstärken sich gegenseitig. Das ist ein Problem, das schon seit vielen Jahren in dieser Form besteht.
Der Staat Türkei hat sich immer gegen eine Lösung des Problems entschieden. Ja, wir sprechen heute über die Einsetzung der Zwangsverwaltern, aber auch vor den Zwangsverwaltungen gab es immer eine Politik der Lösungsverweigerung in der Region. Insbesondere in Zeiten, in denen der Militarismus extrem dominant war und die Militärbürokratie die gesamte Politik bestimmte, gab es eine politische Verweigerungshaltung hinsichtlich einer Lösung der kurdischen Frage. Vor allem wurde die Region immer mit Gesetzen des Ausnahmezustands regiert. Daran hat sich auch heute nichts geändert, die Staatsräson ist dieselbe geblieben.
Die Grundlage für die Einsetzung der Zwangsverwaltungen, die das Innenministerium plötzlich, ohne Begründung und ohne Rechtsgrundlage getroffen hat, sind die nach dem Putschversuch vom 15. Juli 2016 erlassenen Gesetzesdekrete. Die Republik Türkei wird nicht mehr durch ihre eigenen Gesetze regiert, sondern durch Dekrete. So wurde ein Dekret zum Gesetz, nach welchem der Innenminister nun jederzeit Zwangsverwalter für jede Gemeinde ernennen kann.
Begonnen wurde nach den Kommunalwahlen diesmal mit der Gemeinde Colemêrg (tr. Hakkari). Danach wurde der Stadtbezirk Esenyurt unter Zwangsverwaltung gestellt, wenige Tage später wurden auch für die Gemeinden Mêrdîn (Mardin), Êlih (Batman) und Xelfetî (Halfeti) Treuhänder ernannt. All diese Prozesse kennen wir als ganze Gesellschaft aus nächster Nähe. Als Menschenrechtsaktivistin bin ich wie viele andere Menschen unmittelbare Zeugin des unermüdlichen Einsatzes von Ahmet Türk, dem Ko-Bürgermeister der Gemeinde Mêrdîn, für die kurdische Sache. Ein Staat, der sogar Ahmet Türk durch einen Zwangsverwalter ersetzen lässt, zeigt damit, dass er diese Frage nicht lösen will.
Ich möchte aber ein wenig über Êlih sprechen, weil es dort eine Frau als Ko-Bürgermeisterin gab, Gülistan Sönük. Êlih ist eine sehr wichtige Stadt für Frauen. Menschenrechtsaktivist:innen wissen sehr gut, dass Êlih in den 1990er Jahren, als die Morde unbekannter Täter, das Verschwindenlassen von Menschen und das Niederbrennen von Dörfern ihren Höhepunkt erreichten, die Stadt in Kurdistan war, die am meisten gelitten hat. Es gab eine Zeit, in der in Êlih vor allem gegen Frauen besonders grausame Methoden angewandt wurden, und viele Frauen nahmen sich deshalb das Leben.
Deshalb war es so wichtig, dass in einer Stadt, in der Frauen so brutal verfolgt wurden und extremer Gewalt ausgesetzt waren, eine Frau zur Bürgermeisterin gewählt wurde. Wenn wir uns die politische Geschichte anschauen, sehen wir, dass Êlih ein Brennpunkt ist, in dem die drängendsten Probleme der kurdischen Frage erlebt wurden. Wir sollten nie vergessen, dass am 12. November 1979 der Bürgermeister von Êlih, Edip Solmaz, von Contra-Kräften ermordet wurde.
Ein weiterer kurdischer Abgeordneter, Mehmet Sincar, wurde am 4. September 1993 in Êlih ermordet, wohin er mit einer Delegation gereist war, um die politischen Morde in Êlih zu untersuchen. Êlih hat viel Leid erfahren.
Wegen dieser Leiden und der vom Staat begangenen Rechtsverletzungen war der Wille des Volkes von Êlih immer aufrichtig, standhaft und unbeugsam. So auch heute, nach der Einsetzung des Zwangsverwalters. Es ist sehr wichtig, dass die Menschen in Êlih Gülistan Sönük zur Ko-Bürgermeisterin gewählt haben. Natürlich ist Gülistan Sönük eine Frau, die in der kurdischen politischen Bewegung groß geworden ist. Aber sie ist eine Frau... Denn Êlih ist eine Stadt, in der Frauen ermordet werden, in der Frauen aufgrund von erfahrener Gewalt gezwungen waren, ihrem Leben ein Ende zu setzen.
Das Erstarken der kurdischen Frauenbewegung führte zur Wahl von Gülistan Sönük in Êlih. Gülistan Sönük leistete in der Gemeinde Pionierarbeit, vor allem im Bereich Gewalt gegen Frauen und Selbstorganisation von Frauen. Sie hatte sehr wichtige Projekte initiiert und die Einsetzung des Zwangsverwalters in Êlih hat bei den Frauen ein sehr großes Trauma ausgelöst.
Es ist eine klare Sache, dass die Politik der Verweigerung von Lösungen keine Ergebnisse gebracht hat. Diejenigen, die den Staat regieren, wissen das besser als wir. Mit dieser Politik der Nichtlösung wird nichts erreicht. Wenn morgen gewählt wird, wird dasselbe Volk, das Gülistan Sönük zur Bürgermeisterin gewählt hat, die Person wählen, die an ihrer Stelle als Bürgermeisterin kandidiert. Wird sich dieser Teufelskreis also fortsetzen? Wir schreiben das Jahr 2024 und leben immer noch in einem Land, in dem Städte und Gemeinden unter Zwangsverwaltung stehen.
Man muss aber auch sagen, dass es trotz des großen Drucks und der vielen Rechtsverletzungen in der Bevölkerung immer noch einen unbesiegbaren Willen gibt, vor dem ich mich mit großem Respekt verneige. Und dieser Wille des Volkes ist das einzige, dem ich vertraue.
Der Kommentar der Menschenrechtsanwältin und IHD-Vorsitzenden Eren Keskin vom 13. November 2024 ist zuerst in türkischer Sprache bei Yeni Yaşam Gazetesi erschienen und in deutscher Übersetzung bei Civaka Azad - Kurdisches Zentrum für Öffentlichkeitsarbeit e.V.