Eren Keskin: Rückkehr in die 1990er Jahre

Die Ko-Vorsitzende des Menschenrechtsvereins IHD, Eren Keskin, sieht deutliche Parallelen der türkischen Staatspolitik heute mit den 1990er Jahren und spricht davon, dass sich das Regime durch Rassismus an der Macht halten will.

Eren Keskin, Ko-Vorsitzende des Menschenrechtsvereins IHD

Das AKP/MHP-Regime versucht, seine Macht durch Rassismus und Polarisierung aufrechtzuerhalten. Die kurdische Sprache wird nicht einmal auf Verkehrshinweisen geduldet. Stattdessen werden rassistische Parolen verbreitet und es werden sogar kurdische Tänze als „Terrorpropaganda“ kriminalisiert, Hochzeiten gestürmt und Gäste und Musiker:innen festgenommen.

24 Personen, darunter auch Minderjährige, wurden in den letzten Tagen festgenommen und teilweise inhaftiert, weil sie Parolen skandiert und zu kurdischen Liedern getanzt hatten. Die Ko-Vorsitzende des Menschenrechtsvereins (IHD), Eren Keskin, ordnete die Geschehnisse gegenüber ANF politisch und rechtlich ein und erklärte, es sei mittlerweile so weit gekommen, dass das Kurdischsein als Straftatbestand gewertet wird.

Das Verständnis der 90er Jahre ist an der Macht“

Eren Keskin war als Menschenrechtsverteidigerin Zeitzeugin der Rechtsverletzungen in den 1990er Jahren, der Morde durch Kontras, des Verschwindens in staatlichem Gewahrsam und des Niederbrennens von Dörfern. Vor dem Hintergrund dieser Erfahrung betont sie, dass heute erneut das Verständnis der 1990er Jahre herrsche. Die Politik des Staates verschärfe sich kontinuierlich und alle Werte des kurdischen Volkes würden erneut ins Visier genommen.

Die IHD-Vorsitzende erinnerte daran, dass die Türkei Unterzeichnerin vieler internationaler Konventionen sei, die sie heute systematisch breche. Die Inhaftierungen von Personen, die tanzten und auf Kurdisch Parolen gerufen hatten, stünden beispielhaft für diese Unrechtspraxis.

Das Leben von Menschen wird durch nicht existente Straftatbestände zerstört“

Eren Keskin wies darauf hin, dass sowohl der Kassationsgerichtshof als auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) entschieden haben, dass die Parole „Bijî Serok Apo“, die als Grund für die Verhaftungen angeführt wird, für sich genommen keine Straftat darstellen könne. Sie klagte an, dass so das Leben von Menschen wegen eines Straftatbestands, den es gar nicht gebe, ruiniert werde. Die Anwältin fuhr fort: „Vor zwei Tagen wurden zum Beispiel zwei Minderjährige in Siirt verhaftet, weil sie angeblich auf einer Hochzeit zu einem Guerilla-Lied Govend getanzt hätten. Nun hat diese Region eine bestimmte gesellschaftliche Formation. Man kann das nicht als Straftat deklarieren, ohne diese Struktur zu betrachten. Diese Lieder werden sogar bei Hochzeiten von Dorfschützern gespielt, es gibt viele Beispiele, die in den Medien immer wieder gezeigt werden. Diese Lieder sind Volkslieder, die von den Menschen in dieser Gegend akzeptiert und verinnerlicht wurden. Hier wird versucht, das Kurdischsein an sich zu bestrafen. Ganz offiziell wird den Kurdinnen und Kurden gesagt: ‚Du wirst nicht wie ein Kurde leben‘. Die Botschaft lautet: ‚Du kannst Kurde sein, aber du musst wie ein Türke leben‘. Es treffen sich hundert Menschen und feiern eine Hochzeit. Sie spielen Lieder und tanzen. Jemand macht ein Foto oder eine Aufnahme davon oder sieht das Video irgendwo in den sozialen Medien. Es ist sehr interessant, dass vier Frauen und zwei Mädchen in Siirt aufgrund eines Hinweises eines sogenannten ‚Agentur-Informanten‘ verhaftet wurden. Was ist ein Agentur-Informant?“

Früher ermordeten sie uns, jetzt kontrollieren sie das Leben und verhaften uns“

Die Menschenrechtlerin beschrieb diese Geschehnisse als Bedrohung der kurdischen Bevölkerung in der Türkei. Jeder Aspekt des Lebens, sogar das Privatleben, werde überwacht. Mit der Entwicklung der Technologie seien neue Werkzeuge der Kontrolle und Unterdrückung entstanden, sagte Eren Keskin und erklärte: „Früher haben sie getötet und zerstört, jetzt kontrollieren sie jeden Moment unseres Lebens und verhaften uns. Das ist eine schreckliche Sache, etwas Unbegreifliches.“ Sie kritisierte: „Niemand außer den Kurdinnen und Kurden, Menschenrechtsorganisationen und Rechtsorganisationen stellen sich dem entgegen. Das Thema steht beispielsweise in keiner Weise auf der Agenda der größten Oppositionspartei (CHP). Ich habe nicht ein einziges Mal gehört, dass sie sich dazu geäußert hätte. Menschen werden aus Hochzeiten herausgeholt und verhaftet, weil sie getanzt haben. Das ist eine Verletzung des Lebens der Menschen. Wie ich schon sagte, sie verbieten es, Kurdisch zu sein. Kurdinnen und Kurden wird das Recht abgesprochen, sie selbst zu sein.“

Die AKP ist zu einer zweiten MHP geworden“

Zu den vom Staat angeordneten Übermalungen kurdischer Verkehrshinweise sagte Keskin: „Die Stadtverwaltungen benutzen kurdische Aufschriften auf einer absolut menschlichen und gerechtfertigten Grundlage, nämlich um Verkehrsunfälle zu vermeiden. Denn es gibt Menschen, die kein Türkisch sprechen, vor allem ältere Menschen. Es gibt aber ein System, das nicht einmal das duldet. Wenn du kein Türkisch sprichst, kannst du überfahren werden. Die Botschaft ist, dass es egal ist, ob man Opfer eines Verkehrsunfalls wird. Ich glaube, die MHP hat hier einen großen Einfluss. Denn die MHP hat die Macht komplett übernommen. Die AKP ist zu einer zweiten MHP geworden. Das kurdische Volk steht trotz aller Provokationen weiterhin aufrecht und diszipliniert. Es will Chaos verhindern.“

Alle autoritären Regime setzen darauf, Feinde zu konstruieren“

Die langjährige Menschenrechtsaktivistin erklärte, dass die Konstruktion von Feinden ein Merkmal von autoritären, unterdrückerischen Regimen sei. So versuchten diese, ihre Macht zu legitimieren. Keskin weiter: „Der einzige Trumpf dieser Regime ist es, sich Feinde zu konstruieren. Denn sie brauchen immer einen Feind, um zu existieren. Jetzt werden zum Beispiel junge Menschen und Frauen, die beim Govend festgenommen werden, gezwungen, rassistische Musik und Hymnen wie ‚Ölürüm Türkiyem‘ [Ich sterbe für dich Türkei] zu hören, und Aufnahmen davon werden auch in der Öffentlichkeit verbreitet. Wenn man sich anschaut, was unter diesen Bildern gepostet wird, kann man klar sehen, wie der rassistische Nationalismus angefacht wird. Der rassistische Nationalismus wird ständig neu aufgestachelt. Das ist nicht nur ein Beispiel für Unterdrückung, Ungerechtigkeit oder Rassismus gegenüber diesen jungen Menschen. Diese Praxis stellt auch eine große Gefahr für die Gesellschaft insgesamt dar. Die Gesellschaft wird gegen die Kurdinnen und Kurden organisiert. Nicht nur gegen Kurden, sondern gegen alles, was anders ist."

Rassismus wird angestachelt, um vom Mord an Sinan Ateş abzulenken“

Am 30. Dezember 2022 wurde der Chef der Grauen Wölfe, Sinan Ateş, von anderen türkischen Faschisten erschossen. Offenbar war der populäre Rechtsextremist dem Führer der MHP und Erdoğan-Partner Bahçeli zu nahegekommen. Im Moment läuft das Verfahren und alles deutet darauf hin, dass die Verwicklung der MHP, de facto Koalitionspartei der AKP, vertuscht werden soll. Dies hat zu Aufruhr im faschistischen Milieu geführt. Eren Keskin sieht in der aktuellen rassistischen Hetzkampagne daher auch ein Ablenkungsmanöver des Regimes. Sie erinnerte daran, dass dieser mitten auf der Straße begangene Mord auch Proteste bei den Faschisten hervorgerufen habe, und sagte: „Ich denke, dass dieser Mord eine wichtige Bedeutung dafür hat, dass gerade der rassistische Nationalismus derart angefacht wird. Es geht darum, ihn vollständig zu vertuschen. Die Regierung sollte Maßnahmen gegen die MHP ergreifen. Die Polizei befindet sich vollständig in den Händen der MHP. Das ist sehr gefährlich.“

Das Problem ist, dass sich Regierung und Opposition ähneln“

Eren Keskin wies darauf hin, dass die CHP, die sich als wichtigste Oppositionspartei darstellt, hier eine große Verantwortung habe, der sie aber nicht nachkomme. Das Hauptproblem der Türkei sei, dass sich Regierung und Opposition in grundlegenden Fragen gleichen. „Es gab zum Beispiel den Friedensprozess, und in diesem Prozess gab es eine teilweise Entspannung. Wenn die kurdische Frage gelöst werden soll, muss die CHP die AKP fragen: ‚Warum ist euch dieser Friedensprozess nicht gelungen?‘ Aber stattdessen fragt die CHP: ‚Warum habt ihr diesen Prozess initiiert? Warum habt mit Qendîl gesprochen? Warum habt ihr mit Imralı gesprochen?‘ Wie kann man bei einer solchen Opposition eine Veränderung erwarten? Das ist das Hauptproblem: Die Regierung und die Opposition gleichen sich. In der Opposition gibt es nur 15 Prozent, die alles einsetzen, die alles riskieren. Schauen Sie sich uns alle an, niemand von uns hat ein Privatleben, wir müssen jeden Moment damit rechnen, ins Gefängnis zu kommen, wir stehen unter Meldeauflagen, wir können nicht ins Ausland fahren, alle stehen massiv unter Druck. Trotzdem setzen diese Menschen ihren Kampf fort. Deshalb muss auch die Hauptopposition ihren Beitrag leisten.“