Krieg gegen Frauen

Der Dritte Weltkrieg ist ein Krieg gegen die Gesellschaft und die Natur, angefangen bei den Frauen. Er wird sehr bewusst nicht benannt und fast unsichtbar gemacht. Wie können wir die Massaker an Frauen anders definieren als mit dem Begriff Krieg?

Interview mit Çiğdem Doğu (KJK)

Çiğdem Doğu hat sich als Exekutivratsmitglied der KJK (Gemeinschaft der Frauen Kurdistans) im ANF-Interview zum Charakter des unausgesprochenen Dritten Weltkriegs gegen Frauen, die Gesellschaft und die Natur geäußert.

Was lässt sich über den Charakter des Dritten Weltkriegs sagen? Mit welchen Methoden, Taktiken und Strategien gehen die kapitalistischen Weltsysteme und nationalstaatlichen Regime im Nahen Osten und darüber hinaus vor?

Weltkriege sind in den Köpfen der Menschheit als Prozesse verankert, in denen Staaten in gegenseitigen Bündnissen offiziell Krieg gegeneinander erklären und führen, in denen Millionen von Menschen in einem weiten geografischen Gebiet sterben und großen Schaden erleiden, komprimiert auf einen Zeitraum von vier Jahren. Da die beiden Weltkriege auf diese Weise geführt wurden, wird der Dritte Weltkrieg auf ähnliche Weise angegangen, was zu einem ähnlichen Schema führt. Bekanntlich haben beide Weltkriege zu Erfolgen sozialistischer, demokratischer und nationaler Befreiungskämpfe der Unterdrückten und zu dauerhaften Errungenschaften geführt.

Die wichtigste Schlussfolgerung für die Kräfte der kapitalistischen Moderne ist, dass der Dritte Weltkrieg auf der Grundlage geführt wird, mögliche Errungenschaften der Unterdrückten und Gesellschaften zu verhindern. Es gibt einen ganzheitlichen Ansatz, sowohl die Welt nach ihren eigenen kapitalistischen Interessen neu zu gestalten, als auch die vorhandene Kampfkraft der Völker und Unterdrückten bei der Umsetzung dieser Gestaltungsstrategie zu liquidieren und mögliche Kampfdynamiken frühzeitig zu neutralisieren. Aus diesem Grund wird der Krieg mit Mitteln geführt, die zu langwierig sind, um sie auf einen Zeitraum von wenigen Jahren zu komprimieren, und zu reichhaltig, um sie auf einige Länder zu beschränken und mit einer einzigen Methode anzugehen. Der Krieg ist überall, wenn auch in unterschiedlichen Formen und in einigen Gebieten sichtbarer und intensiver ist.

Vertiefung und Ausbreitung des Krieges

Von Methoden des Kalten Krieges bis zu Methoden des Heißen Krieges, vom Einsatz harter Macht bis zu weicher Macht, von Nationalstaaten bis zu nichtstaatlichen Strukturen, alle Mittel der physischen und speziellen Kriegsführung bilden die Grundlage dieses Prozesses. Der Dritte Weltkrieg wird als Kampf der kapitalistischen Moderne gegen alle Gesellschaften, die Natur und die Frauen charakterisiert und geführt. Ein weiteres wichtiges Merkmal dieses Krieges ist, dass er langwierig ist und lange andauert. Die Mächte der kapitalistischen Moderne vertiefen und erweitern den Krieg, indem sie auf die gesamte Machtakkumulation und Erfahrung der zentralen Zivilisation zurückgreifen. Bei der Gestaltung seines neuen, die nationalen Grenzen überschreitenden Systems bedient sich das globale Kapital geschickt aller Arten von Nationalismus, religiösem Fanatismus, Sexismus und Szientismus. Zu diesem Quartett kommt noch die hohle Methode des Universalismus hinzu, die sich nicht auf das Lokale stützt.

Der Krieg wird durch Fragmentierung unsichtbar gemacht

Für die Kräfte der kapitalistischen Moderne ist es sehr wichtig, den Krieg unsichtbar zu machen, damit sie ihre Strategie durchführen können, ohne die nationalstaatliche Struktur zu beschädigen, die ein Hindernis für die globale Zirkulation des Kapitals darstellt, und ohne eine revolutionäre Entwicklung für die Unterdrückten zu verursachen. Je geschickter also Nationalismus, Religion, Sexismus und Szientismus innerhalb der Nationalstaaten eingesetzt werden, desto unsichtbarer wird der Weltkriegscharakter der Gewalt. Die intensive Anwendung von Gewalt in einer Geographie macht den Krieg sichtbarer, aber die fragmentierte Anwendung von Gewalt innerhalb jedes Nationalstaates verhindert dies. Ein offener Kriegszustand beherrscht die Gesellschaften, die Unterdrückten, und spielt eine Rolle bei der Entwicklung einer stärker integrierten und mächtigeren Kampfstrategie. Die Gesellschaften reagieren schneller und stärker auf einen Krieg, den sie offen sehen.

Der Dritte Weltkrieg hat nicht erst jetzt begonnen

Der Dritte Weltkrieg richtet sich gegen Gesellschaften, Frauen und die Natur und wird seit fast 30 Jahren auf diese Weise geführt. Er wird geführt, ohne ihn beim Namen zu nennen und ohne ihn sichtbar zu machen, indem der Eindruck erweckt wird, er beschränke sich auf die interne Struktur der Nationalstaaten und einige ihrer Feinde. Dieser Prozess wird auf eine sehr geschickte und rücksichtslose Weise durchgeführt. In diesem Zusammenhang ist es wichtig, darauf hinzuweisen, dass der Dritte Weltkrieg nicht erst jetzt begonnen hat, wie teilweise suggeriert wird. Er begann in den 1990er Jahren, als die USA den Irak ins Visier nahmen. Rêber Apo [Abdullah Öcalan] hatte diese Feststellung schon vor vielen Jahren getroffen, und der strategische Wert dieser Feststellung wird heute viel besser verstanden.

Neue Phase seit dem 7. Oktober

Die Zeit seit dem 7. Oktober 2023, nach dem Angriff der Hamas auf Israel, und der bis heute von Israel fortgesetzte Krieg stellen eine neue Phase des Dritten Weltkriegs dar. Die Erklärung Netanjahus in seinen ersten Stellungnahmen nach dem 7. Oktober, dass die Landkarten geändert werden, und die mittlerweile entstandene Situation sind ein deutlicher Hinweis darauf.

Es wäre ein positivistischer Ansatz, den Diskurs über die Änderung der Landkarten auf eine rein politische Bedeutung zu beschränken. Die Karten des hegemonialen Systems, die Berechnung neuer Energierouten, geostrategische und geopolitische Berechnungen bezeichnen im Wesentlichen Massaker an Gesellschaften, Frauen und Kindern. Das sollte niemals vergessen werden.

Auswirkungen auf Frauen und Gesellschaft

Inwieweit schürt dieser Krieg Frauenfeindlichkeit? Und auf welche Weise wirken sich Nationalismus, religiöser Fanatismus, Sexismus und Szientismus als Nährmittel des Faschismus auf die Existenz und die Identität von Frauen heute aus?

Das Hauptziel des globalen Kapitals ist es, den Willen der Gesellschaft zu brechen, und Gesellschaft bedeutet in erster Linie Frauen, und Frauen bedeuten Leben. Während das Kapital männlich dominiert ist, ist die Gesellschaft weiblich orientiert. Das gesellschaftliche Leben ist moralisch-politisches Leben, und es sind die Frauen, die das moralisch-politische Leben aufrechterhalten, umsetzen und in Bewegung halten. Die Mutter des sozialen Lebens in materieller und geistiger Hinsicht ist die Frau. Von den ersten Stunden der Herrschaft bis heute beruht die Hauptstrategie zur Unterdrückung des gesellschaftlichen Willens auf der Unterdrückung des Willens der Frauen. In dieser Hinsicht gibt es eine Geschichte und die Erfahrung und den Korpus der männlich dominierten Macht, die durch diese Geschichte geschaffen wurden. Während diese Anhäufung und Erfahrung selbst konstant ist, erfordern das vom männlich dominierten Kapital erreichte Niveau und die Notwendigkeit, alle Grenzen zu überwinden, Methoden und Politikformen, die über das Übliche hinausgehen.

Zerstörung des organisierten Widerstands

Die Antwort auf Ihre Frage findet sich genau an diesem Punkt. Da der Dritte Weltkrieg auf der langfristigen Zerstörung des Willens der Gesellschaft, also auch des Willens der Frauen, und dem damit verbundenen Aufbau der Hegemonie beruht, werden Nationalismus, religiöser Eifer, Szientismus und Sexismus zu den Hauptwaffen. Diese vier Elemente, die auch als hybride Kriege bezeichnet werden, spielen sowohl als physische als auch als spezielle Elemente der Kriegsführung eine enorme Rolle. Sie spalten und zersplittern die Gesellschaft bis in ihre Atome, schwächen insbesondere die moralisch-politische Stärke von Frauen und machen sie unfähig, der männlich dominierten kapitalistischen Macht organisiert Widerstand zu leisten. Durch die Anwendung polarisierender und zersetzender ideologischer Methoden werden Gesellschaften, Frauen und Männer, Religionen, Nationen, Individuen gegeneinander aufgehetzt und dazu gebracht, sich gegenseitig zu bekämpfen. In der Atmosphäre dieses Krieges wird die moralisch-politische Kraft in höchstem Maße geschwächt. Wenn das Prinzip des moralisch-politischen Lebens, das Bewusstsein, eine Gemeinschaft zu sein, geschwächt wird, gibt es keine Kraft mehr, Widerstand zu leisten.

Krieg gegen Gesellschaft und Natur

Aus diesem Grund betrachten wir den Dritten Weltkrieg als einen Krieg gegen die Gesellschaft und die Natur, angefangen bei den Frauen. Dieser Krieg wird sehr bewusst nicht benannt, er wird fast unsichtbar gemacht. Wie können wir die Massaker an Frauen mit tausend Gesichtern in der ganzen Welt, im Nahen Osten und in Kurdistan anders definieren als mit dem Begriff Krieg? In welchem Zeitraum hat es so intensive Massaker an Frauen, Massaker an der Natur, soziale Degradierung und Degeneration des Lebens gegeben? Schon ein genereller und grober Überblick lässt uns klar erkennen, dass wir es mit einem gewaltigen Feminizid in fast jeder Geografie und auf jedem Quadratmeter der Welt zu tun haben. Es ist eine große Lüge zu behaupten, dass diese Kriegsgewalt gegen Frauen nur in einigen „rückständigen“ Ländern vorkommt und dass sie von Einzelpersonen verursacht wird. Diese Behauptung ist Teil der speziellen Kriegsführung, damit der Krieg gegen Frauen nicht sichtbar wird. Wir wissen sehr wohl, dass die Herrschenden nationale, konfessionelle und kulturelle Unterschiede in den Gesellschaften benutzen, um Nationalismus und religiösen Fanatismus zu provozieren. Damit provozieren sie eine von Männern dominierte Gewalt und machen Feminizid durch die Schaffung von Konfliktfeldern alltäglich.

Was geschieht heute in der Türkei, im Jemen, im Sudan, in Äthiopien, in Libyen, in Afghanistan usw.? Wenn wir die Massaker und die Ausbeutung von Frauen in diesen Ländern betrachten, können wir sehr deutlich sehen, wie diese Methoden angewandt werden und zu Ergebnissen führen. Wenn wir andererseits die Orte betrachten, die die kapitalistische Moderne als entwickelte Länder bezeichnet, in denen es keine heißen Konflikte gibt, sehen wir, dass diese Methoden jetzt sichtbarer angewendet und Frauen angegriffen werden.

Taktische Projektionen des Krieges gegen Frauen

Ein sehr wichtiger Punkt ist natürlich, dass der Krieg gegen Frauen nicht auf die Ergebnisse von Konflikten beschränkt werden darf, die durch die Provokation von Nationalismus und religiösen Fanatismus entstehen. Das ist wirklich sehr wichtig. Denn wenn wir den besonderen Aspekt des Krieges nicht sehen, nämlich den Aspekt, die Frauen nicht physisch zu töten, sondern ihren Körper und ihre Seele vollständig in eine Marktware zu verwandeln, haben wir einen unvollständigen und daher falschen Ansatz für die Strategie des Dritten Weltkriegs. Die taktischen Projektionen des Krieges, mit denen Frauen in jedem Moment konfrontiert sind, reichen von der Entwertung der weiblichen Arbeit bis hin zur Umwandlung jedes Organs des weiblichen Körpers in eine sexuelle Ware, die die Weiblichkeit auf ein extrem erniedrigendes und demütigendes Niveau bringt. Der Körper der Frau wird mit ästhetischen Operationen verwandelt, die hegemoniale Männlichkeit bestimmt über alles, von der Anzahl der Kinder, die sie gebären soll, bis hin zu der Frage, wie sie sich kleiden und wie sie leben soll. Frauen werden zwischen traditioneller Weiblichkeit und maskulinisierter Weiblichkeit eingeklemmt. Natürlich ist die gesamte Gewalt nicht vollständig sichtbar, weil sie stückweise erfolgt, aber wenn wir diese stückweisen physischen und moralischen Operationen zusammenzählen würden, käme ein atomares Gewaltniveau heraus. Dieser Krieg führt zu schrecklichen Zerrüttungen in der Frau, in ihrer Physis, Psychologie, Spiritualität und Beziehungswelt. Eine Frau, deren Körper und Welt zerrissen wird, bedeutet eine gespaltene Gesellschaft und eine zersplitterte Natur. Deshalb ist unsere Welt zu einer Welt ohne Liebe, ohne Licht, ohne Sinn geworden.

Teil 1