Wohin treibt Armenien?

Die vorgezogenen Parlamentswahlen am 20. Juni werden das Spiegelbild einer zerrissenen und polarisierten Gesellschaft zeigen. Doch die Aufgaben, die Armenien bevorstehen, reichen weit über diese Wahlen hinaus.

Karl Marx schrieb im „18. Brumaire des Louis Bonaparte”: „Hegel bemerkte irgendwo, dass alle großen weltgeschichtlichen Tatsachen und Personen sich sozusagen zweimal ereignen. Er hat vergessen, hinzuzufügen: das eine Mal als Tragödie, das andere Mal als Farce.“ Die Parlamentswahlen in Armenien werden aller Voraussicht nach entweder den früheren Präsidenten Robert Kotscharjan oder den geschäftsführenden Premierminister Nikol Paschinjan als Sieger haben. Beide Kandidaten liegen nach den jüngsten Umfragen in etwa gleich auf und symbolisieren mit ihren Programmen zwei ungleiche, aber kombinierte Wege des Scheiterns der bürgerlichen armenischen Parteien seit der Unabhängigkeit. Die Rückkehr des einen an die Macht würde eine Tragödie, die Bestätigung des anderen an dessen Stelle eine Farce bedeuten.

Doch bevor wir uns einer Skizzierung dieser Kandidaten widmen, wollen wir zunächst das Koordinatensystem dieser Wahlen aufzeichnen.

Die Wahlen zum Parlament in Armenien finden vorgezogen statt, nachdem der Premierminister Paschinjan am 25. April zurücktrat und kein weiterer Premier an seiner Stelle gewählt und das Parlament damit aufgelöst wurde. Insgesamt 25 Parteien oder Parteiallianzen treten an, wobei für erstere eine 5-Prozent-, für letztere eine 7-Prozent-Hürde besteht. Das Parlament wird mindestens 101 Sitze haben, vier davon sind den nationalen Minderheiten im Land garantiert: Den Ezid:innen, Assyrer:innen, Kurd:innen und Russ:innen. Gemäß der Verfassung müssen mindestens 30 Prozent der Kandidat:innen weiblich sein, wobei mindestens eine Frau auf den ersten drei Listenplätzen vertreten sein muss. Damit sind rund 37 Prozent der Kandidat:innen bei diesen Wahlen weiblich; die auch als Unabhängige auf den jeweiligen Listen antreten können.

Unabhängig von dem Abschneiden der Parteien wird es mindestens drei Fraktionen geben, wobei die stärkste Fraktion nicht mehr als zwei Drittel der Sitze bekommen wird, egal wie stark sie bei den Wahlen abschneidet. Damit soll eine Monopolisierung der Macht verhindert, und die Rechte der Opposition aufrechterhalten werden. Die stärkste Fraktion wird aber mindestens 54 Prozent der Sitze bekommen, auch wenn sie weniger Stimmenanteilen haben sollte: Damit soll wiederum die Regierungsfähigkeit aufrechterhalten werden.

Die Parteien

Realistisch gesehen haben nur drei, maximal vier Parteien wirkliche Chancen, ins Parlament einzuziehen. Alle Analyst:innen erwarten ein enges Ergebnis zwischen der Partei von Nikol Paschinjan („Zivilvertrag”) und der „Armenien-Allianz” des zweiten Präsidenten Robert Kotscharjan. Teil dieser Allianz ist auch die Armenische Revolutionäre Förderation (ARF, Daschnakzutyun), die in der Diaspora die vielleicht wichtigste Organisation ist, aber in Armenien alleine wenig Zuspruch erhält. In der jüngsten Umfrage liegt Kotscharjan zum ersten Mal knapp in Führung und wird womöglich eine beträchtliche Aufholjagd abschließen, da seine Allianz am Anfang bei nur sechs Prozent lag und heute auf 25 Prozent hoffen kann. Auf der anderen Seite ist der Vorsprung von Paschinjan zusammengeschmolzen, lag er nach dem Krieg im November noch bei über 30 Prozent.

Was sind die Hintergründe dieses Stimmungswandels? Drei Jahre nach der sogenannten Samtenen Revolution, als Paschinjan im Zuge von friedlichen Massenprotesten an die Macht kommen konnte, sieht es sogar noch so aus, als könnte auch die Allianz von dem damals zurückgetretenen Sersch Sargsjan in das Parlament einziehen und eine Koalition mit Kotscharjan eingehen. Es wäre das endgültige Scheitern der Samtenen Revolution und das Ergebnis nicht nur eines außenpolitischen Fiaskos mit der Kapitulation gegen Aserbaidschan und die Türkei im zweiten Arzach-Krieg, sondern auch der anhaltenden schwierigen sozialen Lage im Land, die durch die Corona-Krise erschüttert wurde.

Obwohl sich die Begeisterung für Kotscharjan in Grenzen hält und es nicht unwahrscheinlich ist, dass es auch eine große Wahlabstinenz geben wird, trauen immer mehr Menschen Robert Kotscharjan in Fragen der nationalen Sicherheit. Paschinjans Bilanz seit dem Krieg ist desaströs: Noch immer gibt es rund 200 armenische Kriegsgefangene, obwohl dies laut Abkommen vom 10. November illegal ist und noch immer befinden sich aserbaidschanische Truppen auf international anerkanntem Territorium Armeniens, und zwar seit Anfang Mai. Die Regierung ist unfähig die Landesgrenzen zu verteidigen, was angesichts der drohenden panturkistischen Gefahr samt dem von Baku unbedingt gewollten Korridor durch Südarmenien nach Nachitschewan und in die Türkei besonders gefährlich ist.

An der Grenze gibt es auch weiterhin nahezu täglich Provokationen; selbst ein armenischer Soldat wurde von Aserbaidschan in Armenien erschossen, ohne dass die Regierung Gegenmaßnahmen eingeleitet hätte, ja hätte einleiten können! Paschinjan ist mehr damit beschäftigt, seine Gegner zu beleidigen, als die Landesverteidigung adäquat zu organisieren: Mal bezeichnet er seine politischen Gegner:innen als „Ratten” oder „Hunde”, die der „Hammer” treffen werde. Sein pro-türkischer Kurs, der auch dazu führte, dass er eine sehr wichtige Minenlandkarte von Akna (Aghdam) gegen die Freilassung von nur 15 armenischen Kriegsgefangenen eintauschte, verdeutlicht, dass er die jetzige Phase der Auseinandersetzungen mit Baku nicht als die Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln ansieht, sondern Versöhnung mit zwei Diktatoren will, die sich am 15. Juni — dem Gedenktag des Genozids an den christlichen Suryoye — im besetzten Schuschi feiern ließen und einen Beistandspakt miteinander abschlossen.

Es ist daher nicht verwunderlich, dass nicht nur, sondern auch seine politischen Mitstreiter aus der zweiten und dritten Reihe mit skandalösen Aussagen den Boden für die pro-türkische Politik bereiten. So bestreit einer der wichtigsten Kandidaten von „Zivilvertrag”, Gurgen Arsenjan, dass die Türkei panturkistische Ambitionen pflege und sagt, dass er „kein einziges Dokument kenne, dass so etwas belege.” Als ob es also keine türkische Kriegsbeteiligung gegeben hätte.

Robert Kotscharjan mag sich insgesamt dezenter äußern, allerdings schreckt auch er nicht davor zurück, die Rhetorik zu eskalieren. Als er ein Angebot Paschinjans zu einem TV-Duell abschlug mit der Begründung, man rede nicht mit „Verrätern”, konnte er nicht anders als hinzuzufügen, dass er für ein Duell mit allen möglichen Waffen bereitstehe. Paschinjans Retourkutsche ließ nicht lange auf sich warten, als er das „Angebot” annahm und den zentralen Platz der Republik als Ort vorschlug.

Man muss sich also durch viel Schlamm wühlen, um das Programm der Parteien zu durchschauen.

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Auch das Besondere an diesen Wahlen ist, dass alle bisherigen vier Machthaber seit der Unabhängigkeit gegeneinander antreten. Eine wohl weltweit einzigartige Konstellation, auch wenn es klar ist, dass Sargsyan und Kotscharjan jederzeit miteinander ein Bündnis eingehen könnten. Der erste Präsident Armeniens, Lewon Ter-Petrosjan, hat dagegen sowohl mit seinem ehemaligen Schützling Nikol Paschinjan gebrochen, als auch keine Chance auf den Einzug in das Parlament. LTP, wie er auch nach seinen Kürzeln geschrieben wird, war immer derjenige gewesen, der bereit war, die meisten Zugeständnisse in der Arzach-Frage zu machen. Der Artikel „Krieg und Frieden” aus dem Jahre 1998 des im nordsyrischen Aleppo geborenen und gebildeten Philologen verdeutlicht bis heute par excellence die liberale und versöhnlerische Strömung der armenischen Bourgeoisie: Zugeständnisse in der Arzach-Frage im Tausch für wirtschaftliche und politische Öffnung mit der Türkei und Aserbaidschan für ein Land, dessen beide Grenzen seit der Unabhängigkeit geschlossen sind.

Paschinjan setzt diese Linie angesichts eines immer aggressiver auftretenden türkischen Staates unbeirrt fort: Dass die Türkei permanent im Krieg ist und derzeit einen brutalen Besatzungskrieg in Südkurdistan ausficht, wird geradezu ignoriert. Dass die Türkei seit dem Artikel von LTP eine expandierende Rüstungsindustrie aufgebaut hat, die sie auch einsetzte, weil laut Erdogan dieser Sektor „niemals stagnieren” dürfe, scheint nicht in die Ohren der liberalen armenischen Politiker:innen gelangt zu sein. Passend dazu heißt es in einem Artikel der konservativen deutschen Zeitung FAZ: „Als die AKP 2002 zum ersten Mal eine Wahl gewonnen hatte, war noch kein Hersteller aus der Türkei in der Liste der hundert größten Rüstungsunternehmen vertreten. Im Jahr 2006 wurde mit Aselsan das erste türkische Unternehmen in die Liste des amerikanischen Fachmagazins ‚Defense News’ aufgenommen, 2012 mit Tusas das zweite. Seit 2017 kam jedes Jahr ein weiteres hinzu. Inzwischen führt die Liste sieben türkische Unternehmen. Nur die Vereinigten Staaten, Großbritannien und China sind mit mehr Rüstungsfirmen vertreten.”

LTP und wohl auch Paschinjan, wie wir uneingeschränkt hinzufügen können, betonte dieser Tage sogar, dass Armenien in der Arzach-Frage „nichts mehr machen kann, weil es nicht mehr in unserer Hand liegt und Armenien nichts entscheiden kann.” Das sind defätistische Aussagen, die durch Paschinjans Handlungen assistiert werden, da die Republik Armenien sich aus Arzach zurückgezogen und die Sicherheit der Armenier:innen in Arzach ihnen selbst und den russischen Truppen überlassen hat. Mit der Entscheidung, die armenischen Wehrpflichtigen nicht mehr in Arzach dienen zu lassen, sowie der skandalösen Überreichung vieler Gebiete um die Region herum, fördert diese Regierung die Spaltung zwischen Armenien und Arzach.

Robert Kotscharjan hingegen ist in Armenien wohl der Politiker schlechthin, der die besten Verbindungen zum Kreml hat. In der Arzach-Frage betont er die Präsenz der russischen Truppen, die am besten für immer dort bleiben sollten. Sozial konservativ, aber wirtschaftlich durchaus liberal eingestellt, verbindet ein Teil der Armenier:innen mit ihm die Dekade des Wirtschaftswachstums bis zur Weltwirtschafts- und Finanzkrise 2008 — ein anderer Teil hingegen verbindet mit ihm geradezu despotische Verhältnisse und seine zweifelhafte Rolle hinsichtlich des Terrorangriffs auf das Parlament vom 27. Oktober 1999, als seine politischen Kontrahenten Wasken Sarkissjan und Karen Demirtschjan ermordet wurden.

LTP als Designer, Robert Kotscharjan, Sersch Sargsjan und mittlerweile auch Nikol Paschinjan als Vollstrecker eines kapitalistischen Klassensystems in Armenien, das nie in der Lage war, angemessen über die Jahrzehnte hinweg auf die panturkistische Gefahr zu reagieren und ein soziales Programm aufzuwerfen, um die Lebensverhältnisse der arbeitenden Bevölkerung zu verbessern. Die Unterschiede zwischen den beiden Blöcken sind in der Tat in der Außenpolitik zu suchen, innenpolitisch jedoch überschneiden sie sich jedoch allen entwürdigenden Beleidigungen und Beschimpfungen zum Trotz. Es ist daher nicht verwunderlich, dass der armenisch-französische Historiker und Autor des anerkannten philosophisch-historischen Werks „The Armenian Experience”, Gaïdz Minassian, in einem Vergleich der Präsidenten folgendes schrieb:

„Die drei Präsidenten unterscheiden sich eher an ihrem Verhalten als an ihrer politischen Orientierung: Kotscharjan ist statischer, Sargsjan konservativer und Ter-Petrosjan separatistischer. Der erste Präsident der Republik Armenien war ein Intellektueller, distanziert von seinen Mitbürger:innen und den Medien. Kotscharjan war ein Ingenieur mit rigiden Methoden, genauso distanziert von den Journalist:innen und mit einer lakonischen Art der Kommunikation. Sargsjan, ebenfalls ein Ingenieur entwickelte eine Vision der autoritären Strafverfolgung und eine Undurchsichtigkeit qua seiner Erfahrung als Vorsitzender in verschiedenen Regierungsministerien. […] Alle drei hatten aber manchmal einen paranoiden Machtbegriff. […]

Palastintrigen, Abrechnungen, Nepotismus, Patronage, Einschüchterungen, Manipulation und Korruption sind die Wörter, die einem in den Sinn kommen, wenn man von der frühen Geschichte der Republik Armenien spricht.”

Die Wahlen 2021, die so polarisiert wie noch nie sind, setzten dieser Entwicklung die Krone auf die Spitze. Markar Melkonian, der Bruder, Biograph und Mitkämpfer des Revolutionärs Monte Melkonian, brachte es dabei in seinem jüngsten Artikel auf den Punkt: „Armeniens Großkapitalisten haben zwanzig politische Parteien, eine verrückter und rechter als die andere. Aber wenn es um die arme und arbeitende Mehrheit des Landes geht, hat sie keine organisatorische Präsenz vor Ort, oder fast keine. Heute, in den Trümmern des 44-Tage-Krieges, sollte die Lektion glasklar sein: Armenien braucht eine starke, kämpferische Partei der Arbeiter:innenklasse.”


Hovhannes Gevorkian (28) wurde in der armenischen Hauptstadt Jerewan geboren. Der Jurist lebt und arbeitet in Berlin.