GfbV erhebt schwere Vorwürfe gegen deutsche Syrien-Politik

Mit den Dschihadistenoffensiven auf Aleppo und Şehba sei das Ende der Vielfalt in Nordsyrien eingeleitet, die kurdische Existenz faktisch vernichtet. Die Gesellschaft für bedrohte Völker sieht auch die Bundesregierung in der Verantwortung.

Nordsyrien: Ende der Vielfalt eingeleitet

Die Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV) erhebt mit Blick auf die Dschihadistenoffensiven auf Aleppo und Şehba schwere Vorwürfe gegen die aktuelle und frühere deutsche Bundesregierung. „Seit Beginn der syrischen Revolte haben diese Regierungen aus geopolitischen Interessen nicht auf demokratische, säkulare Kräfte, sondern auf Empfehlung Erdogans auf sunnitisch-islamistische Gruppen gesetzt“, berichtete der GfbV-Nahostreferent Dr. Kamal Sido am Montag in Göttingen. Das Ergebnis dieser zutiefst verfehlten Politik sei, dass radikale Organisationen wie der sogenannte Islamische Staat (IS), das Terrornetzwerk Al-Qaida und die Muslimbrüder den syrischen Aufstand gegen die Assad-Diktatur weitgehend unterwanderten.

Auf Erdoğan ausgerichtete deutsche Syrienpolitik

„Dass diese Kräfte ausgerechnet heute in Aleppo und im gesamten Nordwesten Syriens auf dem Vormarsch sind, ist auch auf diese unverantwortliche Politik deutscher Politiker wie Angela Merkel (CDU) als damalige Bundeskanzlerin, Frank-Walter Steinmeier (SPD) sowie Sigmar Gabriel (SPD) als damaliger Bundesaußenminister zurückzuführen“, betonte Sido. Die letzte Bundesregierung aus den Ampelparteien SPD, FDP und Grünen habe die auf Erdoğan und sunnitische Islamisten ausgerichtete Syrienpolitik fortgesetzt. Mit dem Vormarsch der radikalen Islamisten auf Aleppo und andere Städte in der Region drohe nun der endgültige Verlust der ethnischen, religiösen, kulturellen und sprachlichen Vielfalt im Nordwesten Syriens. Dort werde vorerst das Recht der islamischen Scharia herrschen, warnte der GfbV-Nahostreferent.

Aleppo in HTS-Hand, Şehba steht vor SNA-Besatzung

Die Terrororganisation Hayat Tahrir al-Sham (HTS) hatte am Mittwoch einen Überraschungsangriff auf Aleppo begonnen und die Millionenmetropole binnen weniger Tage fast vollständig überrannt. Die syrische Armee und ihre iranischen und russischen Verbündeten zogen sich zurück und überließen den Dschihadisten ihre Waffensysteme, Stützpunkte und Militärflughäfen. Parallel dazu startete ein weiterer Islamistenverband – die von der Türkei finanzierte, ausgerüstete und kontrollierte „Syrische Nationalarmee“ eine eigene Offensive auf die nördlich von Aleppo gelegene Şehba-Region, in deren Zentrum die Stadt Tel Rifat (Tall Rifaat) liegt. Rund zwei Drittel der Kurdinnen und Kurden, die 2018 infolge des türkischen Angriffskrieges aus Efrîn flüchten mussten und sich in Şehba niederließen – insgesamt waren damals fast eine halbe Million Menschen aus Efrîn geflohen, darunter mehr als 350.000 Kurd:innen – werden nun erneut vertrieben. Knapp 200.000 sitzen aktuell in Tel Rifat und den Vertriebenenlagern außerhalb der Stadtgrenzen in der Falle. Ein von den Demokratischen Kräften Syriens (QSD) zur Evakuierung der Bevölkerung ausgebauter Fluchtkorridor ist wegen andauernder Angriffe zusammengebrochen.

Hetze gegen Kurd:innen und Massaker-Befürchtungen

Das sich aus den Dschihadistenoffensiven in Nordsyrien ergebende Szenario fasste GfbV-Nahostreferent Kamal Sido wie folgt zusammen: „Mit den aktuellen Angriffen der Türkei und ihrer islamistischen Söldner auf die letzten von Kurd:innen bewohnten Ortschaften im Norden Aleppos ist das Ende der kurdischen Existenz faktisch eingeleitet. Gleiches gilt für Armenier, Assyrer/Aramäer und andere christliche Gemeinschaften.“ Sido warnte auch vor einer großen Gefahr von „Gräueltaten und Massakern“ an der Bevölkerung von Şehba, die nicht wisse, wohin sie fliehen solle. Unter ihnen seien auch viele Angehörige der ezidischen und alevitischen Glaubensgemeinschaften. „In den syrischen islamistischen Medien, insbesondere in den sozialen Medien der syrischen islamistischen Opposition, die auch vom Auswärtigen Amt in Berlin finanziert werden, wird auf übelste Weise gegen Kurdinnen und Kurden gehetzt. Die Zivilbevölkerung und insbesondere die Minderheiten in Syrien werden von der Türkei und der NATO einerseits und von Russland und dem Iran andererseits für geopolitische Interessen geopfert.“

Syrien darf kein zweites Afghanistan werden

Wer islamistische Anschläge auf Weihnachtsmärkte in Deutschland und Europa wirklich verhindern wolle, dürfe nicht zulassen, dass Syrien zu einem zweiten Afghanistan wird, forderte Sido. „Erdoğan und die Islamisten werden Syrien keine Demokratie bringen. Mit den Islamisten wird es noch schlimmer um die Menschenrechte, um die Rechte der Minderheiten bestellt sein. Vor allem für die Frauen wird es eine Katastrophe. Wer Demokratie in Syrien will, muss Erdoğan und die anderen Islamisten in die Schranken weisen. Syrien braucht nach über 50 Jahren Assad-Diktatur Demokratie und Gleichberechtigung für alle Bürger:innen, aber keine neue islamische Republik von Erdoğans Gnaden.“ Wer ein säkulares System in Syrien will, sollte nicht Erdoğan und andere Islamisten in Syrien unterstützen, sondern die Demokratischen Kräfte Syriens (QSD, auch SDF). Diese seien multiethnisch, multireligiös und säkular und stünden für Glaubensfreiheit und Frauenrechte.

Foto: Blick aus dem kurdischen Stadtviertel Şêxmeqsûd auf Aleppo © Nazım Daştan / MA 2021