Seit etwa dreieinhalb Jahren ist Efrîn vom türkischen Staat und seinen Söldnern besetzt. Die Operation und die Praxis der Invasoren, die sich nicht von der des IS unterscheidet, haben die Demografie der Region verändert. Der kurdische Bevölkerungsanteil ist von über neunzig Prozent vor der Besetzung unterschiedlichen Quellen zufolge auf 15 bis 22 Prozent gesunken. Auf Grundlage der Strategie des türkischen Staates in der Region verüben die Banden des MIT und der „Syrischen Nationalen Armee" (SNA) systematisch Massaker, Folter, Lösegelderpressungen, Plünderungen und Vergewaltigungen.
Nach Angaben der Menschenrechtsorganisation Efrîn wurden seit Beginn der Invasion in Efrîn mindestens 7.810 Menschen entführt, wobei das Schicksal von über 3.000 Personen unbekannt ist. Obwohl sie syrische Staatsangehörige sind, wurden etwa 50 Menschen aus Efrîn von den Invasoren in die Türkei gebracht und in türkischen Gefängnissen inhaftiert. Einige wurden von türkischen Gerichten zu langen Haftstrafen verurteilt.
Die Entführung von Zivilist:innen durch die Invasoren hat in Efrîn zugenommen, nachdem Abdülhekim Bashar, Vizepräsident der vom türkischen Staat geführten „Koalition der syrischen Opposition und Revolutionäre“ und Mitglied des ENKS-Vorstands, erklärt hatte, dass die Behauptungen des türkischen Staates über Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit in Efrîn unbegründet sind.
Laut Zahlen der Menschenrechtsorganisation Efrîn wurden in den letzten zwei Monaten 79 Menschen entführt, davon 37 im Juli und 42 im August. Fünf von ihnen sind Frauen, eine ist ein 14-jähriges Mädchen. Bislang wurde nur eine der entführten Frauen freigelassen. Es wurde jedoch festgestellt, dass einige der Betroffenen, die von den Invasoren in Efrîn entführt und gefoltert wurden und denen ihr Geld gestohlen wurde, vom ENKS und Milizionären von Şehba nach Efrîn zurückgebracht wurden.
Völkermord: Der türkische Plan wird in Efrîn umgesetzt
Der Sprecher der Menschenrechtsvereinigung von Efrîn, İbrahim Şêxo, und der aus Efrîn stammende Rechtsanwalt Cebrail Mustafa haben die Rolle von Entführungen im Rahmen der Strategie des demografischen Wandels, die jüngste Zunahme von Entführungs- und Folterfällen in der Stadt und die Rolle des vom ENKS geführten Privatkriegs gegenüber ANF bewertet.
Cebrail Mustafa erklärt mit Hinweis auf die Praxis der Verschleppung, dass das Hauptziel dieser Entführungen nicht darin bestehe, Geld oder Lösegeld zu erhalten. „Der kurdische Völkermord, den Mustafa Kemal in Nordkurdistan durchgeführt hat, wird nun in Efrîn umgesetzt", sagt der Rechtsanwalt. Die Entführungen von Menschen in Efrîn seien von den Invasoren sorgfältig geplant und Teil des Völkermords an den Kurd:innen und des demografischen Wandels in der Region.
„Die Besatzungspraktiken in Efrîn sind eine Fortsetzung des Reformplans für den Osten (Şark Islahat Planı). Es ist eine Fortsetzung des demografischen Wandels, der in Nordkurdistan in den ersten Jahren der Republik sowie in den späten 1980er und frühen 1990er Jahren stattfand. Alle historischen Artefakte von Efrîn wurden geplündert, und die Umwelt und die Geschichte der Stadt wurden zerstört. In Efrîn wurden vier Märtyrerfriedhöfe gesprengt und Gräber geöffnet. All diese Praktiken werden auf der Grundlage des demografischen Wandels und des kurdischen Völkermords verübt."
Zwei Schritte zur Veränderung der demografischen Struktur
Mit der Invasion in Efrîn hat der türkische Staat die erste Etappe seiner Strategie zur Veränderung der Demografie der Region erfüllt, erklärt Cebrail Mustafa: „Sie haben Efrîn mit all ihren schweren Waffen, mehr als 25 Tausend Söldnern, Tausenden von Soldaten und 72 Kampfjets angegriffen. Nach 58 Tagen Widerstand wurden fast 300.000 Menschen gezwungen, aus der Region zu fliehen. Nach der Eroberung der Stadt sind Kurdinnen und Kurden entführt, abgeschlachtet und gegen Lösegeld verkauft worden. Frauen wurden vergewaltigt, das Eigentum der Menschen wurde geraubt und zerstört. Natürlich ist es das Ziel, die Kurden in Efrîn zur Flucht zu zwingen.
Viele Einwohner von Efrîn flohen aus ihren Häusern und wanderten aufgrund dieser Praktiken, die auf die Besetzung folgten, aus. Hunderttausende Personen aus verschiedenen Orten wie Idlib, Dera und anderen Städten wurden in Efrîn angesiedelt. Bislang wurden mehr als 16 Brikettlager für diese Siedler errichtet. Dies geschieht im Rahmen des zweiten Teils des Plans zur demografischen Umgestaltung, der mit der Durchführung der Besatzung umgesetzt wurde."
Brutale Praxis des Besatzungsregimes international dokumentiert
Laut Cebrail Mustafa hat der türkische Staat seit Beginn der Besatzung alle unmenschlichen Methoden gegen die Bevölkerung von Efrîn angewandt. Darüber wird in internationalen Publikationen berichtet: „Internationale Berichte und Berichte von Menschenrechtsgruppen in den Gebieten der Autonomen Verwaltung haben bewiesen, dass diese Praktiken das Niveau von Verbrechen gegen die Menschlichkeit erreicht haben. Sie wurden auch im Bericht der unabhängigen internationalen Untersuchungskommission der Vereinten Nationen zu Syrien erwähnt. Mit anderen Worten: Niemand kann die barbarischen Handlungen des türkischen Staates in Efrîn gutheißen.
In allen Staaten und auf der ganzen Welt gibt es bestimmte Vorschriften für die Gefängnisverwaltung. Dies ist in Efrîn jedoch nicht der Fall. Die Kerker in Efrîn sind Folterkammern ohne jegliche Vorschriften. Es gibt Verliese, die verschiedenen Bandengruppen gehören. Zusätzlich zu den zentralen Gefängnissen in Efrîn-Marete und Azaz-Sico hat jede Bandenorganisation in den Dörfern Verliese gebaut. Hier foltern sie verschleppte Einheimische."
„Gegründeter Rechtsausschuss ist ein Schwindel“
Mustafa weist darauf hin, dass die gewalttätigen Praktiken in der Stadt nicht abgenommen haben, sondern eskaliert sind, nachdem sowohl syrische als auch internationale Menschenrechtsorganisationen darüber berichtet hatten. Er beschreibt einige der Maßnahmen, die von der türkischen Regierung und ihren Söldnern durchgeführt werden, um die Bevölkerung zu täuschen und gleichzeitig Entführungen und Folter auszuweiten: „Die Koalition der syrischen Opposition und der ENKS betreiben eine üble Politik im Einklang mit dem Plan des türkischen Staates zum Völkermord an den Kurden und zum demografischen Wandel. Als Teil dieser Vereinbarung hat Nasir Hariri Efrîn im Oktober 2020 besucht.
In einem zweiten Schritt wurde das ,Komitee zur Wiederherstellung der Rechte' gegründet. Dieses Komitee besteht aus Personen, die Eigentum und Wohnungen in Efrîn beschlagnahmen und plündern. Deshalb sind die Menschen nicht in der Lage, sich gegen sie auszusprechen. Es handelt sich um ein Komitee, dessen einziger Zweck es ist, die Menschen zu täuschen. In der vergangenen Ära ist die Koalitions-Verwaltung nach Efrîn zurückgekehrt und hat Abu Emşa, dem Kommandeur der Sulaiman-Schah-Brigaden, ein Geschenk überreichte. All dies zeigt, dass die türkische Regierung, die Koalition der Opposition und der ENKS zusammenarbeiten, um die Demografie von Efrîn zu verändern."
ENKS führt einen besonderen Krieg gegen die Menschen in Şehba
İbrahim Şêxo, Sprecher der Menschenrechtsorganisation Efrîn, erklärt, dass die Entführungen von Zivilist:innen durch die Invasoren im Juli und August zugenommen haben. Demnach handele es sich zum Teil um Personen, die trotz der Besetzung in der Stadt geblieben seien, und zum Teil um Personen, die aus Şehba und Aleppo nach Efrîn zurückgekehrt seien.
Şêxo beschreibt den auf Grundlage der türkischen Staatspolitik geführten besonderen Krieg der ENKS-Leute, um einige der Menschen, die aufgrund der Besatzung und des brutalen Vorgehens der Invasoren von Efrîn nach Şehba abgewandert sind, zurückzuholen: „Einige der ENKS-Mitglieder, vor allem ihre Verwandten und sie selbst, laden die Menschen, die ihnen nahe stehen, nach Efrîn ein. ,Geht zurück in das Land eurer Väter und Großväter', sagten sie zu ihren Verwandten und Bekannten aus der Bevölkerung, die unter harten Bedingungen in Şehba leben. ,Ihr wohnt in den Lagern von Şehba. Wenn ihr nicht zurückkehrt, werdet ihr eine lange Zeit in Şehba verbringen. Kehrt zurück und holt euch eure Häuser und Oliven zurück. Euer Haus und eure Oliven werden verschwinden. Niemand wird euch belästigen, wenn ihr zurückkehrt', sagen sie.
Sie haben eine Gruppe von etwa 25 Personen zusammengestellt, um die Menschen von Şehba nach Efrîn zu bringen. Einige befinden sich in Efrîn, andere im Ausland. Einige von ihnen sind, glaube ich, in Şehba. Sie verbreiten Propaganda und organisieren Überfahrten, um Menschen aus Şehba ins besetzte Efrîn zu locken. Natürlich beschränkt sich der ENKS nicht auf Treffen und Telefonate. In dieser Hinsicht bedient er sich auch der Medien. In diesem Monat sorgte die Website von ENKS für Schlagzeilen. ,Die Autonomieverwaltung wird 500 Familien nach Raqqa an der syrisch-irakischen Grenze bringen und sie dort ansiedeln. Wenn ihr nicht nach Efrîn zurückkehrt und stattdessen nach Raqqa geht, werden eure Häuser und Olivenhaine zerstört werden', hieß es dort."
Die Besatzung soll legitimiert werden
Şêxo erklärt weiter: „Einerseits foltern und entführen sie die Menschen vor Ort und nehmen ihr Geld; sie entführen Kurden und sogar Araber, die sich trotz der Besatzung weigern, Efrîn zu verlassen, und nehmen ihnen das Geld ab. Andererseits hat die türkische Regierung mit Hilfe des ENKS mehrere Kurden nach Efrîn zurückgeholt, um behaupten zu können, dass die Gerüchte über das Besatzungsregime unwahr sind. Damit soll eine Botschaft ausgesendet werden, die besagt: ,Sie akzeptieren uns'.“
Der Menschenrechtsaktivist setzt seine Ausführungen mit folgenden Worten fort: „Şehba, wo etwa 150.000 Zivilisten leben, wird praktisch jeden Tag bombardiert. Trotz der schrecklichen Umstände ist die Mehrheit der Bewohner von Efrîn in Şehba geblieben und hat ihren Widerstand fortgesetzt. In Şehba behielten sie ihre Selbstverwaltung. Eines der Motive für diese Politik ist die Zerschlagung der Opposition in Şehba und die Beseitigung der Autonomieverwaltung, weil sie ihre Kampagne gegen Şehba eskalieren wollen, indem sie sich in den Augen der internationalen Gemeinschaft profilieren. Gleichzeitig gehen die Bemühungen um den Anschluss von Efrîn an die Türkei weiter. Sie beabsichtigen, es auf die gleiche Weise zu annektieren wie Liwa Iskenderun."
İbrahim Şêxo betont, dass einige Menschen aus Efrîn durch spezielle Kriegspropaganda von der „Oppositionskoalition“ und dem ENKS nach Hause zurückgeschickt wurden, ihr Geld wurde gestohlen und sie wurden erneut gefoltert. Er fügt hinzu: „Auf dem Weg ist ihnen erneut Geld abgenommen worden. Wenn diese Vertriebenen in Efrîn ankommen, werden sie von Banden entführt. Einige von ihnen werden gegen Lösegeld freigelassen, andere nicht. Das Geld, das in letzter Zeit gezahlt wurde, ist nicht unbedeutend. Wir haben erfahren, dass einige von ihnen ein Lösegeld von 6.000, 7.000 oder 8.000 Dollar bezahlt haben. Die Leute, die illegal Menschen von Şehba nach Efrîn transportieren, sind Mitglieder türkischer, dem Staat angehörender Banden. Auf ihrem Weg von Şehba nach Efrîn wurden Anfang August einige Familien in Qamar, einem der besetzten Dörfer in Şerawa, festgenommen. Sie wurden zu dem dortigen türkischen Außenposten gebracht. Die Entführer gehörten zu den Banden Faylaq al-Sham und der Hamza-Division. Einige wurden gegen Geld freigelassen, andere jedoch nicht.“
Hauseigentümer wurden getötet
İbrahim Şêxo zufolge wurde den Bewohnern versichert, dass sie ihre Häuser und Olivenhaine zurückbekommen würden, wenn sie nach Efrîn zurückkehrten, aber das war eine Täuschung: „Im August arrangierte die Sulaiman-Shah-Bande ein Treffen mit Familien in Şiye. Sie sagten diesen Leuten, sie sollten die Familien in Şehba nach Efrîn zurückrufen. Wer zurückkehre, könne sein Haus gegen eine Gebühr von 2.000 Dollar zurückerhalten. Die anderen Häuser würden vollständig zerstört werden. Das stimmt jedoch nicht. Ridwan Abdurrahman zum Beispiel blieb trotz der Besatzung in Efrîn. Sein Haus wurde beschlagnahmt. Er wandte sich an den Rechtsausschuss und erhielt sein Haus zurück. Doch kaum hatte er es zurück, wurde er von Milizionären der Hamza-Brigaden im Dorf Mezin in Efrîn-Mabeta ermordet. Die Menschen vermissen Efrîn schmerzlich. Einige unserer Leute kehren mit dieser Fehlinformation nach Efrîn zurück, um ihre Häuser und Olivenhaine zu retten und ihr Land zurückzuerobern. Folter, Verfolgung und IS-Praktiken gehen auf der Grundlage des kurdischen Völkermordes unvermindert weiter. Diejenigen, die zurückgekehrt sind, sind dieser Verfolgung erneut ausgesetzt."