Am 19. Juli 2022 sind neun Zivilist:innen bei einem Angriff der türkischen Armee in der Nähe von Zaxo in der Kurdistan-Region Irak (KRI) getötet worden, 24 Menschen wurden verwundet. Diese Art von Angriffen der Türkei auf die Zivilbevölkerung im Nordirak finden seit sieben Jahren statt und haben mindestens 98 Zivilist:innen das Leben gekostet und Tausende von Menschen vertrieben. Das sind die wichtigsten Ergebnisse eines Berichts, der am 23. August 2022 veröffentlicht wurde.
Die von dem internationalen zivilgesellschaftlichen Bündnis „End Cross Border Bombing Campaign" (ECBBC) durchgeführte Untersuchung über den Zeitraum zwischen dem 1. August 2015 bis Ende 2021 legt detailliert die zivilen Auswirkungen des türkischen Angriffskriegs dar. Laut dem Bericht hat die türkische Armee seit 2015 mehr als 4.000 Luft-, Artillerie- und Bodenangriffe innerhalb der irakischen Grenzen durchgeführt, von denen allein 1.600 im Jahr 2021 registriert wurden. Die türkischen Militäroperationen haben nicht nur die Unsicherheit und Instabilität in der Region verschärft, sondern beeinträchtigen auch unverhältnismäßig stark das Leben der in der Region lebenden Zivilbevölkerung.
Der Bericht dokumentiert, dass in den vergangenen sieben Jahren bis zu 123 Zivilist:innen bei mindestens 88 Angriffen der Türkei ums Leben gekommen sind. Die Zahl der Vorfälle, bei denen Zivilist:innen zu Schaden kamen, hat zugenommen; in den Jahren 2020-2021 gab es mindestens 40 solcher Vorfälle. 55 Menschen wurden bei ihrer Tätigkeit als Bauer oder Hirte getötet. 13 Prozent der Todesopfer sind Frauen, 87 Prozent sind Männer. Darüber hinaus wurden bei den Angriffen mindestens sechs Kinder getötet und 14 weitere verletzt. Schätzungsweise 500 Dörfer wurden im gleichen Zeitraum entvölkert.
Internationales Bündnis gegen grenzüberschreitende Angriffe
End Cross Border Bombing ist eine internationale Kampagne, die vor zwei Jahren ins Leben gerufen wurde. Das Bündnis setzt sich zusammen aus Iraqi Civil Society Solidarity Initiative, Community Peacemaker Teams (CPT), Iraq Body Count, CODEPINK, NOVACT, Un Ponte Per und Solidarity with Kurdistan/Solkurd.
Mohammed Salah von Community Peacemaker Teams erklärt zu dem Untersuchungsbericht: „Jede Geschichte, die in diesem Bericht erwähnt wird, ist wichtig, und wir sollten nicht länger warten, um weitere Geschichten zu dokumentieren. Stattdessen müssen wir alle gemeinsam als Menschen nach Frieden für das irakische Volk suchen und handeln. Nur gemeinsam können wir dafür sorgen, dass sich die Tragödie der Geschichte in diesem Land nicht wiederholt.“
Verheerende Auswirkungen auf die Zivilbevölkerung
Die Community Peacemaker Teams teilen zu dem Hintergrund weiter mit: „Die Region Irakisch-Kurdistan und das Gouvernement Ninive beherbergen ein vielfältiges Mosaik von Gemeinschaften, von denen viele in Bergdörfern leben und ihren Lebensunterhalt mit landwirtschaftlichen und pastoralen Tätigkeiten bestreiten. Für viele von ihnen stellen die Luftangriffe eine greifbare und allzu häufige Gefahr für ihren Lebensunterhalt und sogar für ihr eigenes Leben dar. Eine unbekannte, aber beträchtliche Anzahl von Familien war gezwungen, ihr Zuhause aufgrund der durch die Bombardierungen verursachten Zerstörungen oder aus Angst um ihr Leben zu verlassen und in benachbarte Städte oder Vertriebenenlager umzusiedeln, in denen es keine grundlegenden Dienstleistungen oder Infrastrukturen gibt.
Unter dem Vorwand, die Guerilla der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) zu bekämpfen, führen die türkischen Luftstreitkräfte seit mehr als dreißig Jahren grenzüberschreitende Militäroperationen innerhalb der Grenzen des Irak durch. Für Ankara ergeben sich aus dieser Aggression kaum Konsequenzen. In den letzten Jahren wurden nach Angaben lokaler Quellen mehr als 60 türkische Militärstützpunkte und Außenposten auf irakischem Gebiet errichtet, von denen aus häufig Operationen mit verheerenden Auswirkungen durchgeführt werden.
Seit 2015 hat das türkische Militär eine Reihe von Operationen gestartet, bei denen es immer weiter in irakisches Gebiet vorgedrungen ist. Die jüngste dieser Kampagnen, die Operation Claw Lock, wurde Anfang 2022 eingeleitet und führte dazu, dass die türkischen Streitkräfte nur 40 Kilometer von größeren irakisch-kurdischen Städten entfernt operierten, darunter auch Erbil [ku. Hewlêr] - die De-facto-Hauptstadt der halbautonomen Region.
Interviews mit Überlebenden
In dem ECBBC-Bericht werden nicht nur die einzelnen Angriffe und die Zahl der getöteten und verwundeten Zivilist:innen aufgeführt, sondern auch die Umstände aller Vorfälle analysiert und die Identität von 155 Opfern genannt.
Die Daten wurden in erster Linie durch Interviews mit Überlebenden der Angriffe und ihren Angehörigen und Gemeindemitgliedern, durch Befragungen lokaler Regierungsvertreter und Analysen sowie durch Abgleiche mit öffentlich zugänglichen Medien und Veröffentlichungen in sozialen Medien erhoben.
Die Datenbanken zu Vorfällen und Opfern sowie andere Ergebnisse des vorliegenden Berichts stellen eine wertvolle und einzigartige Aufzeichnung der zivilen Schäden dar, die durch türkische Militärangriffe innerhalb der irakischen Grenzen verursacht wurden, und geben Aufschluss über das Ausmaß und die Schwere der Verbrechen, die solche Operationen verursachen.
Lückenhafte Dokumentation
Zwischen dem Ausmaß der türkischen Operationen und den Schäden für die Zivilbevölkerung, die weit über einzelne Tote und Verletzte hinausgehen, und ihrer Dokumentation besteht eine große Lücke. Über die zivilen Auswirkungen der türkischen Operationen wird nach wie vor zu wenig berichtet. Die Zivilbevölkerung hat keine Möglichkeit, die Schäden zu melden und die notwendige Unterstützung zu erhalten. Wir glauben, dass dieser Bericht einen Teil dieser Kluft überbrücken wird.
Die Kampagne appelliert an die internationale Zivilgesellschaft und an Organisationen, die am Konflikt beteiligten Parteien zu unterstützen und sie zu ermutigen, eine friedliche Lösung für die derzeitige Situation zu finden - im Interesse der Zivilist:innen, die den höchsten Preis für die kriegerische Politik der beteiligten staatlichen Akteure zahlen.“