Kurz nachdem der neue Präsident der Autonomen Region Kurdistans, Neçirvan Barzani, seinen obligatorischen Besuch in Bagdad abgehakt hat, ist er in die Türkei gereist. Von den türkischen Verantwortlichen wurde er allerdings weniger wie ein Staatsmann, sondern eher wie ein Unternehmenschef empfangen. Kurz nach der Zusammenkunft mit dem türkischen Staatspräsidenten Tayyip Erdoğan kündigte er wichtige Entwicklungen in der Region an. Was es mit den angekündigten Entwicklungen auf sich hat, wird mit Spannung erwartet.
Gleichzeitig hat die Krise zwischen den USA und dem Iran einen vorläufigen Höhepunkt erreicht, nachdem eine US-Drohne abgeschossen wurde. Die USA haben hierauf zwar noch keine militärische Reaktion gezeigt, doch der ökonomische Krieg gegen den Iran ist durch die jüngst erlassenen Sanktionen in vollem Gange.
Die USA bemühen sich parallel darum, die Staaten der arabischen Golfregion und des Mittleren Ostens für ihren Kampf gegen das iranische Regime zusammenzutrommeln. Einer der wichtigsten Akteure hierbei ist der Irak. Auch die Verwaltung der autonomen Region Kurdistans gehört hierzu. Es gibt sogar Quellen, die behaupten, dass der Demokratischen Partei Kurdistans (PDK) und der Patriotischen Union Kurdistans (YNK) ein Ultimatum gestellt worden ist, damit sie klare Position beziehen.
Die Türkei spielt ein doppeltes Spiel
Natürlich wollen die USA auch die Türkei auf ihrer Seite wissen. Doch die Türkei spielt bislang ein doppeltes Spiel. Einerseits wird die USA hingehalten, anderseits stellt sie sich zwar punktuell gegen den Iran, hält aber auch zugleich das Regime in Teheran hin. Die amerikanisch-türkischen Beziehungen durchleben jedenfalls aufgrund der Beziehungen Ankaras zu Russland und dem Iran eine tiefe Krise. Auch weil sich die Haltungen der Türkei und der USA in Bezug auf die Kurden teilweise widersprechen, leiden die Beziehungen zwischen Ankara und Washington.
Inmitten dieser Krise wurde Neçirvan Barzani zum neuen Präsidenten der südkurdischen Verwaltung gewählt und hat der Türkei einen Besuch abgestattet. Am Tag seiner Wahl hat der türkische Staat seine im letzten Jahr begonnene Besatzung der südkurdischen Region Bradost kriegerisch auf Gebiete in Xakurke, das Lolan-Wasser und den Şekif-Berg ausgeweitet. Auch aus diesem Grund verlief die Wahl von Neçirvan Barzani krisenreich. Die Abgeordneten der YNK boykottierten die Abstimmung.
Türkei zur Amtseinweihung von Neçirvan Barzani eingeladen
Am 10. Juni schließlich fand die Amtseinweihungszeremonie von Neçirvan Barzani statt. Auch diese Zeremonie wurde zur Krise und verlief auf eine Weise, die für viele Kurden nicht zu akzeptieren war. Denn Barzani hatte die Türkei eingeladen, woraufhin der türkische Außenminister Mevlüt Çavuşoğlu anreiste. Der eigentliche Skandal ereignete sich, als aus vermeintlicher Rücksicht gegenüber Çavuşoğlu bei der Zeremonie auf die kurdische Hymne „Ey Raqip“ verzichtet wurde. Diese „Rücksichtnahme“ wurde von vielen als Verrat gewertet. Besonders in den sozialen Medien wurde große Kritik am neuen Präsidenten geübt.
Die Hintergründe des Ankara-Besuchs
Der Besuch Neçirvan Barzanis bei Erdoğan erfolgte dann inmitten der heißen Phase des Istanbul-Wahlkampfs. Politische Kreise in Süd- und Nordkurdistan erklärten, dass Erdoğan diesen Besuch für Wahlkampfzwecke missbrauchen wollte. Barzani sei nach Ankara bestellt worden, um in letzter Sekunde noch die kurdischen Stimmen in Istanbul für die AKP zu gewinnen, so die These. Barzani selbst wurde bei dem Besuch von Erdoğan keineswegs wie der Präsident einer Region empfangen.
Die AKP-nahen Medien ließen in ihrer Berichterstattung den Titel Barzanis gleich komplett weg. Inhaltlich wurde lediglich über Handelsabkommen berichtet, die bei dem Treffen vereinbart worden sind. Dass es zwischen der Familie Erdoğan und Neçirvan Barzani enge wirtschaftliche Verbindungen gibt, ist ohnehin kein Geheimnis. So mussten bei dem Besuch Barzanis in Ankara auch die Erdölabkommen zwischen den beiden Partnern erneuert werden. Für deren Fortbestand war die Unterschrift Neçirvan Barzanis notwendig.
Ein weiterer wichtiger Grund für den Besuch war die militärische Präsenz der Türkei in Südkurdistan und die Ausweitung der Besatzungsoperation in den Gebieten Bradost und Xakurke. Was bei diesem wichtigen Thema zwischen Erdoğan und Barzani besprochen wurde, blieb unter Verschluss. Doch noch während des Gesprächs räumten Barzanis Peschmerga zwei strategisch bedeutsame Hügel im Gebiet Kanimasi und einige weitere Stellungen im Grenzgebiet.
Am nächsten Tag füllten türkische Soldaten die geräumten Stellungen. Dieselbe Prozedur wiederholte sich am Tag darauf in Zaxo. Dass diese Entwicklungen sich kurz nach Neçirvan Barzanis Besuch in Ankara ereigneten, lässt erahnen, was bei seiner Zusammenkunft mit Erdoğan vereinbart worden ist. Zudem gibt es Informationen darüber, dass in den letzten Tagen hochrangige Kommandeure der türkischen Armee mit Verantwortlichen der PDK-Peschmerga zusammengekommen sind.
Wie verhält sich die USA zu den Entwicklungen in Südkurdistan?
Wenn wir nun diese Entwicklungen zusammen betrachten, könnte es durchaus sein, dass in den kommenden Tagen eine Großoperation in den Gebieten Metîna, Heftanin und Zap startet, an der auch die Peschmerga der PDK an der Seite der Türkei teilnimmt. Neçirvan Barzani hat somit nach seinem Besuch in Ankara Tür und Tor für eine türkische Besatzung in Südkurdistan geöffnet. Grünes Licht für diese Besatzung scheint es auch aus den USA zu geben. Denn letztlich kann die türkische Armee von hier aus auch Stellung für eine mögliche militärische Operation gegen den Iran beziehen.
Doch solange die Türkei in Sachen Iran keine klare Position bezieht und die USA hinhält, bleibt es fraglich, wie lange dieses grüne Licht für die türkische Besatzung Südkurdistans letztlich leuchten wird. Und selbst wenn die Türkei sich auch nur zum Schein gegen den Iran in Stellung bringt, werden auch die Machthaber in Teheran wohl eher früher als später ihr Schweigen gegenüber Ankara brechen. Denn für das iranische Regime hat der Kampf um Leben und Tod bereits begonnen.
PDK und YNK in der Zwickmühle
Die südkurdischen Parteien PDK und YNK befinden sich aufgrund der politischen Entwicklungen in einer Zwickmühle zwischen den USA und dem Iran. Beide Seiten wollen Klarheit über die Positionierung der beiden Parteien in diesem Konflikt. Und egal für welche Seite sie sich entscheiden, der Druck auf sie von der anderen Seite wird enorm steigen. Vor allem die YNK führt aus diesem Grund derzeit ein diplomatisches Gespräch nach dem anderen. Doch die Gespräche und die Versammlungen haben bislang zu keinen ersichtlichen Ergebnissen geführt.
Wenn wir all diese Entwicklungen zusammennehmen, dann können wir zusammenfassend Folgendes festhalten: Die Türkei will ihre Besatzung auf ganz Südkurdistan ausweiten. Hierzu fordert sie die aktive Unterstützung der PDK ein. Es könnte deshalb in kommenden Tagen durchaus passieren, dass die PDK-Peschmerga an der Seite der Türkei an einer Militäroperation gegen die kurdische Freiheitsbewegung partizipiert. Auch dass die militärische Option zwischen den USA und dem Iran derzeit an Wahrscheinlichkeit gewinnt, bedeutet letztlich nichts anderes als eine Kriegssituation, die auf die eine oder andere Weise die PDK, die YNK und den Irak treffen wird. Und letztlich ist augenscheinlich, dass entsprechend der Vereinbarungen zwischen Erdoğan und Neçirvan Barzani eine weitere Offensive gegen die kurdische Freiheitsbewegung unmittelbar bevorsteht.