Stimmen für Frieden und Freiheit in Syrien

Reflexionen des Andrea-Wolf-Instituts der Jineolojî-Akademie in Rojava über die Perspektive eines demokratischen Systems für Syrien.

Artikel des Andrea-Wolf-Instituts in Rojava

Welche Stimme hat der Frieden? Welche Stimme kann dem mechanischen Sirren der Drohnen, der Explosion der Bomben, den Schreien der Angst und Rascheln der provisorischen Zeltwände, die zu Unterkünften für die Vertriebenen wurden, den Geräuschen des Krieges etwas entgegensetzen? Wie klingt Frieden? Wie klingen Lösungen und Perspektiven? Wie klingt Demokratie?

Die letzten Wochen in Syrien, besonders in Nord- und Ostsyrien, sind geprägt von den Angriffen. Seit das Assad-Regime gefallen ist, kamen gleichzeitig mit der Freude über den Sturz des Diktators auch Unsicherheit und Befürchtungen auf. In Damaskus formiert sich eine neue, selbsternannte Regierung, im Westen und Süden Syriens sind Angriffe gegen Minderheiten und gegen Frauen an der Tagesordnung.

Nur die Einheit aller Frauen kann zu einem demokratischen Syrien führen

Mit dem Ziel, durch die Kraft und Solidarität von Frauen ein demokratisches Syrien aufzubauen, versammelten sich am 7. Januar 2025 um die 500 Frauen zu einer Konferenz in Hesekê. Frauen mit unterschiedlichem Glauben, Sprachen und Kulturen kamen zusammen, um ihre gemeinsamen Anliegen und Ziele für eine demokratische Zukunft Syriens zu diskutieren. Ihre gemeinsame Haltung verdeutlichte: Nur die Einheit aller Frauen kann zu einem demokratischen Syrien führen, wobei die Sicherheit hierfür von den Selbstverteidigungskräften der YPJ und QSD garantiert wird, die Tag und Nacht die andauernden Angriffe der Türkei und ihrer Söldnertruppen abwehren.

Frauenforum in Hesekê  © ANF

Mit einer gemeinsamen Strategie zur Lösung

„Wir lassen kein Syrien ohne Frauen zu. Wir akzeptieren keine Regierung in Syrien, die den Willen der Frauen missachtet”, sagte Evîn Siwêd, Ko-Vorsitzende des Exekutivrates der Demokratischen Selbstverwaltung von Nord- und Ostsyrien (DAANES). „Der Kampf der Frau ist der Ursprung des Zerfalls des Assad-Regimes. Heute wollen sie uns die Rolle und Position, die wir uns erkämpft haben, wieder wegnehmen und der Bevölkerung ein System aufzwängen, das ähnlich wie in Afghanistan ist. Doch für uns ist klar, heute müssen wir vereint sein! Die Probleme, die wir heute erleben, stehen im Zusammenhang mit den Problemen in ganz Syrien, dem Mittleren Osten, der ganzen Welt. Und nur mit einer gemeinsamen Strategie können wir eine Lösung finden. Um für unsere Kinder ein gerechtes System aufzubauen.”

Eine kurdische Mutter erinnert uns an den tagtäglichen Widerstand und Kampf der Frauen. Sie berichtet von der Mutter aus Kobanê, die ihren Sohn beerdigt und dann „Bijî Berxwedana Kobanê” (Es lebe der Widerstand von Kobanê) ruft. Sie erzählt von den Frauen aus Rojhilat, die mit dem Ruf „Jin, Jiyan, Azadî”, die ganze Welt aufweckt haben. Sie spricht von den Müttern, die für die Freiheitskämpfer:innen an der Front Essen zubereiten, und die pausenlos in Bewegung sind, um die Vertriebenen aus Şehba zu versorgen und zu unterstützen. Immer wieder verkünden Frauen entschlossen: „Wir kehren zurück nach Serêkaniyê, nach Girê Spî, nach Efrîn”.

Mizgîn Tahir lässt ihre Stimme erklingen, sie ist Opernsängerin. Alle lauschen gebannt ihrer Stimme. Unsere Gedanken sind bei denen, die für ein freies Leben gefallen sind. Ihre Bilder hängen an der Wand und erinnern an den Schmerz und die Ziele all derer, die alles gegeben haben, damit eine Konferenz wie diese möglich ist. Sie haben die Gedanken von einer Zukunft erbaut, in der die Lieder der Freude und Freiheit erklingen. „Ich bin eine Frau, und ich bin Kurdin, und ich bin Sängerin, und ich war noch niemals so frei, wie ich es hier in Rojava bin“, sagt sie. Früher konnte Mizgîn nicht in ihrer kurdischen Muttersprache singen. Doch in den Gebieten der Selbstverwaltung wurde es allen Völkern möglich, in ihrer eigenen Sprache zu lernen, zu singen, und ihre jeweilige Kultur von Neuem zu leben und zu gestalten. Dies ist ein Anliegen, das uns mit allen Frauen, Kulturen und Glaubensgruppen verbindet.

„Wir sind größer als der Tod!”

Es werden Tonaufnahmen von Frauen aus unterschiedlichen Teilen Syriens und auch aus Ägypten abgespielt. Obwohl diese Frauen aus Sicherheitsgründen daran gehindert waren, persönlich zur Konferenz zu kommen, konnten sie so doch ihre Meinungen und Anliegen mit allen Frauen teilen. Immer wieder wird die Wichtigkeit betont, sich gegenseitig weiterzubilden und zu organisieren.

Die Frauen, die auf der Konferenz versammelt sind, wissen, was es heißt zu kämpfen. Als Frauen, als Mütter, als Künstlerinnen, Medienschaffende, als Freiheitskämpferinnen und Verteidigerinnen der Gesellschaft. Sie alle bilden gemeinsam eine Avantgarde, Vorreiterinnen für den Aufbau einer freien Welt. Sie wissen, was es bedeutet, den Widerstand zu leben und zu artikulieren. Ayşe Efendî, eine Mutter aus Kobanê, drückt dies mit den entschlossenen Worten aus: „Wir sind größer als der Tod!”

Ayşe Efendî (l.) und Evîn Siwêd beim Frauenforum in Hesekê. Efendîs Sohn Şervan Muslim ist 2013 bei einem Gefecht mit IS-Terroristen während des Widerstands um Kobanê ums Leben gekommen  © Kongra Star


Die Ergebnisse der Konferenz wurden in einer Deklaration für Frieden und Demokratie in ganz Syrien zusammengefasst. Frauen sind sich über die notwendigen Schritte zur Lösung einig. Sie akzeptieren die neuen Machthaber in Damaskus nicht. Denn diese agieren eigenmächtig und ignorant. Ihre Töne sind die der Vernichtung, der Zerstörung und des Krieges insbesondere gegen Frauen, in ihren Gebieten dominieren die Töne den Alltag die die Frauen verstummen lassen wollen.

Luftangriff auf Friedenskolonne

Doch wenn sich alle Frauen und die Gesellschaft vereinen, wie es hier in Nord- und Ostsyrien gerade passiert, wird die Möglichkeit eines demokratischen Syriens mit den Stimmen des Friedens greifbar. Die Konferenz „Mit der Solidarität von Frauen werden wir ein demokratisches Syrien aufbauen“ ist eine Aufforderung an alle. Sie zeigt, wie eine Welt, ein Syrien aussehen kann, wenn Menschen, wenn Frauen sich versammeln und für Frieden und Gerechtigkeit vereint sind.

Nur einen Tag nach der Konferenz brachen tausende Menschen zum Tişrîn-Damm im Kanton Firat (Euphrat) auf. Der Staudamm, der weite Teile Nord- und Ostsyriens mit Wasser und Strom versorgt, droht durch die ständigen Bombardierungen der türkischen Armee zu brechen. Zugleich will die türkische Armee durch die Einnahme des Staudamms die Stadt Kobanê einkesseln. Deshalb haben sich Tausende von unbewaffneten Menschen als Friedenskolonne auf den Weg gemacht, um sich den Panzer- und Luftangriffen entgegenzustellen, um ihre Erde, ihre Ressourcen und Freiheit zu verteidigen.

Trotz weiterer Kriegsverbrechen und Bombardierungen der türkischen Luftwaffe, bei denen drei Teilnehmer:innen des Friedenskonvois ermordet und 15 weitere teils schwer verletzt wurden, ließen sie sich nicht aufhalten ihr Ziel zu erreichen. Sie haben das Vertrauen in die Völker der Erde, dass auch diese sich erheben werden und niemand akzeptiert, dass weitere Menschen massakriert werden.

Die Journalist:innen Nazım Daştan (l.) und Cihan Bilgin wurden wenige Tage vor Heiligabend bei einem türkischen Drohnenangriff in Nordsyrien ermordet  © privat


Mahnwache am Tişrîn-Damm: Symbol für den Widerstand des Volkes

Dies zeigt, dass der vereinte Kampf der Gesellschaft und die Sehnsucht der Menschen nach Frieden und Freiheit stärker ist, als ihre Furcht vor dem Tod. Die erste Nacht auf dem Tişrîn-Damm beginnt, die Menschen um das Feuer sitzend, stehend, tanzend. Das, was dort passiert, ist ein Symbol für den Widerstand des Volkes. Er reiht sich ein in die Geschichte der Proteste für den Frieden, gegen Krieg und Besatzung weltweit, wie der antikoloniale Kampf in Indien oder die Proteste gegen den Vietnamkrieg. Wer die Wahrheit dieses Widerstands sieht und spürt, stellt sich die Frage: „Was kann ich für Frieden und Gerechtigkeit tun?“ Gerade deshalb werden Menschen, welche von hier die Stimme des Widerstandes weitertragen, gezielt vom türkischen Staat angegriffen. So wurden am 19. Dezember 2024 der Journalist Nazım Daştan und die Journalistin Cihan Bilgin von einer türkischen Drohne gezielt ermordet, als sie von den Ereignissen am Tişrîn-Damm berichteten. Deswegen ist es an uns allen, vom Widerstand und den Errungenschaften der Rojava Revolution zu berichten.

Nord- und Ostsyrien ist die Stimme der Frau

Sei es bei der Frauenkonferenz oder dem Widerstand am Tişrîn-Damm: hier wird in jedem Augenblick eine unvergleichliche Widerstandsgeschichte geschrieben. Es ist ein Widerstand dafür, dass wir statt Särgen wieder Samen in die Erde geben können. Und wie so oft in der Geschichte, sind es auch heute in Syrien Frauen, die in diesem Kampf gegen die Vernichtung der Völker für Frieden und Freiheit ihre Stimme erheben. Deshalb ist die Stimme in Nord- und Ostsyrien die Stimme der Frau. Und sie zeigen uns, dass alle Frauen, alle Menschen zur Stimme des Friedens und der Freiheit werden können.

Titelfoto: Teilnehmerin des Friedenskonvois zur Tişrîn-Talsperre