Länger als ein Jahrzehnt dauert der Syrien-Krieg nun an und ein Ende ist nicht in Sicht. Eine Folge der Syrien-Krise sind die direkt-demokratischen und feministischen Umbrüche in Nordsyrien, die gemeinhin als »Rojava-Revolution« bekannt geworden sind. Obwohl die Selbstverwaltung in Rojava mit ihrer ideellen und institutionellen Beschaffenheit auf viele Probleme antwortet und als Lösungsansatz für ganz Syrien dienen könnte, ist sie als eine solche Option aufgrund global-struktureller Aspekte und gewisser Sachzwänge (noch) keine realistische.
Aber warum ist das so und was genau ist damit gemeint? Weswegen genau scheitert eine Lösung des Syrien-Konflikts eigentlich? Weil die entscheidenden etatistischen, also staatlichen oder staatsorientierten, Konfliktparteien unterschiedliche Werte und Ideen repräsentieren und sie dementsprechend verschiedene Ziele und Visionen für Syrien haben? Oder verbirgt sich hinter ihrer oberflächlichen Unterschiedlichkeit doch eine untergründige Gleichartigkeit relativ unabhängig von Werten und Ideen?
Zur Beantwortung dieser Fragen werfe ich zunächst einen kurzen Blick auf die junge Geschichte des Syrien-Kriegs und der Rojava-Revolution und rekapituliere sie anhand folgender Fragen: A) Welche wesentlichen Akteure sind in der Syrien-Krise aktiv und was sind ihre Ziele? B) Wie ist im Zusammenhang dieser Fragen die Rojava-Revolution in Nordsyrien einzuordnen und welches Charakteristikum unterscheidet sie von den anderen Akteuren grundlegend?
Akteure und ihre Ziele im Syrien-Krieg
Die im Rahmen des sogenannten Arabischen Frühlings begonnenen zivilen Proteste im Jahre 2011 entwickelten sich aufgrund der direkten und indirekten Beteiligung ausländischer Staaten und Organisationen sehr bald zunächst zu einem Stellvertreterkrieg und dann zu einer internationalen Krise.
Obwohl die Interessen der regionalen und nicht-regionalen Staaten und Organisationen als unterschiedlich erscheinen, so ist dennoch festzustellen, dass die Ziele aller Konfliktparteien – mit Ausnahme von Rojava - auf den gleichen Punkt gerichtet sind. Während einige Akteure die Macht der Assad-Regierung in Syrien erhalten wollen, waren und sind andere daran interessiert die Assad-Herrschaft umzustürzen und sie durch eine andere Zentralregierung zu ersetzen. Diese beiden Lager, die sowohl regionale Staaten (z.B. Türkei, Iran oder Israel) wie global agierende Mächte (z.B. USA, Russland oder europäische Staaten) als auch transnationale Organisationen (z.B. al-Qaida, Islamischer Staat, Muslimbruderschaft oder die libanesische Hisbollah) umfassen, können also dahingehend unterschieden werden, dass die eine Seite um den Erhalt, die andere um den Sturz der aktuellen Regierung im syrischen Staat ringt. Gegenstand der Auseinandersetzung für beide Blöcke bleibt dabei die zentralisierte nationalstaatliche Macht und die damit verbundenen materiellen wie immateriellen Ressourcen, wie zum Beispiel die diversen Monopole über die Gesellschaft oder über die »nationalstaatliche Souveränität«. Ihr Streben dreht sich ausschließlich um die Erringung – oder Beibehaltung - dieser Macht und der an sie gebundenen Rechte. Dabei spielt es keine wichtige Rolle, ob das Baath-Regime an der Macht bleibt oder ob aus dessen Sturz eine islamisch-theokratische, eine an westliche Gesellschaften orientierte »liberal-demokratische« oder eine andere zentralistische Staats- und Gesellschaftsordnung resultiert.
Dass die zahlreichen und scheinbar so diversen Spieler sich in ihrem Handeln wenig unterscheiden, hat damit zu tun, dass das Spiel so angesetzt ist. Ihre Wissens- und Denksysteme, ihre Handlungslogiken leiten sich ab von und orientieren sich am nationalstaatlichen System. Dieses hat sich vor dem Hintergrund der Entwicklung des neuzeitlichen Kapitalismus spätestens seit dem Westfälischen Frieden (1648) zunächst in Europa, dann auf der ganzen Welt rechtlich wie strukturell als herrschende Ordnung etabliert. Insofern strukturiert diese Ordnung viele Sphären unseres Daseins und damit auch das Handeln der Akteure im Syrien-Krieg.
Gewirkt haben die herrschenden Orientierungs- und Handlungsmuster neben der staatlich-elitären auch auf der basalen Ebene: Auslöser der Krise in Syrien waren Proteste aus der Zivilbevölkerung gegen Despotie, sozioökonomische Ungleichheit und politische Unterdrückung, die im Falle des syrischen Nationalstaates von der Einparteienherrschaft des baathistischen Assad-Regimes ausgingen. Einzelne Menschen und Gruppen gingen in zahlreichen Städten auf die Straße und forderten einen Machtwechsel. In einem kurzen Slogan zusammengefasst, war das Hauptanliegen der Protestierenden das Ende des Assad-Regimes.
Diese Forderung unterschied sich aber in ihrer Zielgerichtetheit nicht von den beiden obigen Perspektiven der Konfliktparteien. Auch sie war (und ist) auf die nationalstaatliche Macht und Regierung gerichtet. Sie wurde für ausländische Kräfte und Interessen sogar ganz schnell zum strategischen und Legitimität verleihenden Anker für die Vereinnahmung der friedlichen Proteste und ihrer demokratischen Dynamik. Schon bald verwischten sich die Grenzen zwischen der tatsächlich zivilen und der von ausländischen Staaten und Organisationen maßgeblich kontrollierten »Opposition«.
Vor diesem Hintergrund wird seit mehr als zehn Jahren an der Oberfläche des Syrien-Kriegs ein Kampf um den »syrischen Thron« geführt, der sich untergründig auf ein Komplex von Interessen der im Mittleren Osten agierenden regionalen und internationalen Akteuren stützt und bis heute hunderttausenden Menschen das Leben und weiteren Millionen die Heimat gekostet hat.
Zu diesem Punkt sei noch erwähnt, dass in keinem der Länder, in denen der Wind des Arabischen Frühlings wehte und das Tauziehen zwischen den zentralistischen Konfliktparteien um die nationalstaatliche Macht entschieden wurde, auch tatsächlich positive Veränderungen in den Gesellschaften geschehen sind. Selten wurden die Forderungen der Menschen erfüllt, in vielen Fällen verschlimmerte sich ihre Situation.
Rojava-Revolution in Nordsyrien
Im mehrheitlich kurdisch besiedelten Norden Syriens ermöglichten die Instabilität und die schwindende Autorität und Kontrolle des syrischen Staates einerseits und das Vorhandensein eines alternativen Wissens- und Handlungssystems einer in der Gesellschaft verankerten politischen Bewegung andererseits einen anderen Prozess, der in der Sprache der kurdischen Demokratie- und Freiheitsbewegung als der »dritte Weg« bezeichnet wird. Dieser sogenannte dritte Weg unterscheidet sich in seiner Zielsetzung und Programmatik von denen der beiden anderen Akteursgruppen wie auch von den Erwartungen und der Perspektive der Protestierenden.
Statt der Übernahme oder dem Erhalt der staatlichen Macht forcierte dieser von der syrisch-kurdischen Frauen- und Befreiungsbewegung angeführte dritte Weg den Aufbau einer gesellschaftlichen Ordnung und eines Gemeinwesens, in dem wichtige gesellschaftliche Felder wie zum Beispiel Politik, Verwaltung, Recht, Ökonomie, Bildung oder die innere Sicherheit an der Basis der Gesellschaften dezentralisiert selbst verwaltet werden. Als programmatische Folie und theoretischer Orientierungsrahmen für die Implementierung der direktdemokratischen Strukturen und Institutionen diente der sogenannte »Demokratische Konföderalismus« von Abdullah Öcalan. Diese neue Entwicklung im Öffentlichen und Politischen der nordsyrischen Gesellschaften vollzogen die Kurd*innen und ihre Verbündeten vor dem Hintergrund der oben kurz beschriebenen geopolitischen Gemengelage und mitten im Krieg - entweder gegen islamistische Gruppen, die türkische NATO-Armee oder gegen die symbiotische Allianz beider Lager.
Was den »dritten Weg« betrifft, lässt sich feststellen, dass der Demokratische Konföderalismus zwar nicht auf die Erlangung der Staatsmacht gerichtet ist, aber die von großen Teilen der Bevölkerung generierten Institutionen in ihrer Beschaffenheit gesellschaftliche Felder und Funktionen okkupieren, die bis dato zum Monopol und Handlungsfeld des nationalistischen Zentralstaats gehörten. Es stellt sich damit die Frage: Was unterscheidet den dritten Weg im Hinblick auf seine Art und Weise von der nationalstaatlichen Verwaltung und Gesellschaftsordnung?
Der Zusammenhang zwischen Dezentralität und Demokratisierung
Das »Revolutionäre« an der sozialen und politischen »Rojava-Revolution« kann auch dahingehend interpretiert werden, dass »Dezentralisation« ihren modus operandi beim Aufbau des hybriden und direktdemokratischen Gemeinwesens darstellt. Seit dem quasi gänzlichen Rückzug des syrischen Staates wurde von wichtigen kollektiven Akteuren wie der »Partei der demokratischen Einheit« (PYD), der zivilgesellschaftlichen »Bewegung für eine demokratische Gesellschaft« (Tev-Dem) und der syrisch-kurdischen Frauenbewegung »Kongra Star« zusammen mit großen Teilen der Bevölkerung sukzessiv ein dezentraler und lokal gekennzeichneter Selbstverwaltungskomplex respektive Gemeinwesen etabliert. Die Selbstverwaltung in Kommunen und Räten auf lokaler Ebene, sprich die damit generierte Direktdemokratie, stellt den eigentlichen Bruch und Systemwechsel in Nordsyrien dar. Mit anderen Worten, die radikaldemokratische und dezentral-lokale Selbstverwaltung der Bevölkerung überwindet die zentralisierte Herrschaft im Zusammenhang von Nationalstaat und der repräsentativen Demokratie, und zwar mittels der Parallelität von Dezentralisation und Demokratisierung. Es kann von einer Horizontalisierung und Dezentralisierung der zuvor zentral und vertikal gestalteten Politik und Verwaltung gesprochen werden.
Doch nicht nur die Institutionen bzw. das organisatorische Gerüst der Gesellschaft ist dezentral und basisdemokratisch konstituiert, sondern »Dezentralisation« - als Paradigma - durchzieht den ganzen Ideen- und Wertekomplex des Demokratischen Konföderalismus. Die davon abgeleitete Handlungspraxis wirkt auf der soziokulturellen und politischen Ebene auf strukturelle und oft latente Weise demokratisierend; Demokratisierung im Sinne der Förderung von Anerkennung und Gleichberechtigung der gesellschaftlichen und natürlichen Vielfalt. Dieser Sachverhalt - das dezentralistische Paradigma als Triebfeder von Demokratisierung im Sozialen und Kulturellen - lässt sich an den folgenden Beispielen skizzieren:
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Der vielleicht wichtigste Punkt der Dezentralisation in Nordsyrien ist die angestrebte Geschlechtergerechtigkeit und der Bruch mit dem Androzentrischen, dem Patriarchat in der Gesellschaft. Am prägnantesten wird dieser Aspekt von der autonomen Frauenorganisierung und dem Konzept des systematischen Ko-Vorsitz der Geschlechter in allen Führungspositionen symbolisiert.
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Auch der normative und strukturelle Pluralismus in Rojava, welcher ebenso einen dezentralistischen Charakter hat, führt dazu, dass die verschiedenen ethnischen, religiösen und politischen Gruppen in der Gesellschaft vielleicht zum ersten Mal in der Geschichte gemeinsam Politik betreiben. Das sehr oft leicht missverstandene Konzept der »Demokratischen Nation« ermöglicht eine Einheit verschiedener Nationen, Sprachen, Identitäten oder Religionen. Dies ist dem auf (zentralistischer) Homogenisierung der eigenen Gruppe und der Diskriminierung Anderer basierendem etatistischen Nationalismus entgegengesetzt.
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Auch das Justiz- und Rechtssystem in Rojava, mit dem die Bevölkerung die Regulierung und Regelung zivilrechtlichen Angelegenheiten überwiegend selbst organisiert, nimmt der zentralen und mit Staatlichkeit eng verbundenen Rolle des kodifizierten Rechts viel Raum weg.
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Schließlich erzeugt die Beteiligung an den Selbstverwaltungsinstitutionen neue soziale Praktiken und Prozesse, welche ein demokratisches Miteinander der Menschen fördern. Die Erfahrung der gemeinsam betriebenen Politik und Verwaltung verstärkt den sozialen Zusammenhalt.
Schlussbemerkungen
Die am Anfang gestellten Fragen lassen sich wie folgt zusammenfassend beantworten: Im Syrien-Krieg handeln mit Ausnahme von den Akteuren in Rojava alle Konfliktparteien nach derselben monopolistisch-zentralistischen Machtlogik. Dies ist der wesentliche Grund für die lange Dauer der Kriegs- und Notsituation und die scheinbare Unmöglichkeit einer Lösung. Es geht nicht um Demokratie, Menschenrechte oder die Freiheit der gesellschaftlichen Gruppen in Syrien. Das wissen wir allein aufgrund der Tatsache, dass die Demokratie und Emanzipation in Rojava nicht nur ignoriert, sondern von allen anderen Konfliktparteien auf die eine oder andere Weise bekämpft werden. Der Grund dafür sind die mit dem Nationalstaat verbundenen und in ihm zentralisierten Monopole und Gewalten, die im Kontext der Geopolitik auf der kapitalistischen Arena von enormer Wichtigkeit sind.
Die Selbstverwaltung in Rojava als soziale Konstruktion erfüllt die politische Definition einer »Herrschaft des Volkes« in relevanten Punkten viel mehr als der Nationalstaat bzw. die repräsentative Demokratie. Dadurch wird die wahrliche »Herrschaft des Volkes« entwickelt. Das verleiht Rojava bzw. der Autonomen Administration von Nord- und Ostsyrien Legitimität. Sie ist ihrem Wesen nach ein Bruch mit der zentralstaatlichen Tradition und Ordnung.
Rojava ist trotz der enormen Übermacht vieler ihr feindlich gesinnten Nachbarstaaten, der politischen Diskriminierung vonseiten internationaler Staaten und Institutionen, eines ökonomischen Embargos und schließlich zweier intensiver militärischer Rückschläge gegen den türkischen Staat - 2018 in Efrîn durch die ausschlaggebende Politik Russlands und 2019 in Serêkanîyê und Girê Spî, ermöglicht durch die USA - in vieler Hinsicht noch immer stabil und standhaft. Diese Kraft, so meine Auffassung, rührt hauptsächlich von der Ausstrahlung und den Ergebnissen der dezentralistisch-demokratischen Politik. Die bisher errungene Freiheit und Gleichberechtigung wird von den Menschen vor Ort nicht mehr so leicht aufgegeben werden. Dies gilt nicht nur für die Kurd*innen, die im Zuge der Rojava-Revolution auch die nationale und kulturelle Unterdrückung vonseiten des baathistischen Nationalstaates überwunden haben.
Auch in den mehrheitlich arabisch besiedelten Regionen wie ar-Raqqa oder Deir ez-Zor im Osten Syriens zeigt sich, dass die Bevölkerung trotz der erpresserischen Machtspiele Russlands oder der USA, der auf die Destabilisierung hinzielenden geheimdienstlichen Aktivität diverser Staatsmächte, der intensiven Anti-Propaganda des türkischen oder des baathistischen Staates oder der Ermordung von Politiker*innen durch islamistische Terrorzellen weder an einer Rückkehr des syrisch-arabischen Nationalstaates noch des Islamischen Staates interessiert ist, sondern an ihrer Selbstverwaltung und Autonomie im Rahmen der Autonomen Administration von Nord- und Ostsyrien festhält und sie notfalls zusammen mit ihren kurdischen, christlichen, feministischen und anderen Alliierten auch gegen externe kolonialistische Übergriffe, wie zum Beispiel im letzten Angriffskrieg Erdogans, verteidigt.
Die nordsyrisch-lokale Rojava-Revolution reagiert auf globale Strukturen. Sie ist mehrdimensional: Neben der kurdisch-nationalen, der feministischen und demokratischen forciert sie im Hinblick auf die ökologische Krise auch eine ökonomische Revolution. Wenn sich ihre Ansätze auf ganz Syrien ausweiten, öffnet dies das Tor zum Irak und dem ganzen Mittleren Osten, das wiederum wird Europa und andere Teile des Globus positiv beeinflussen. Es ist unser aller Pflicht, dieses Leuchtfeuer in krisenhaft dunklen Zeiten zu beschützen und zu verstärken, denn es wirft Licht auf das, was in unserer gesellschaftspolitischen Existenzweise überwunden und verändert werden muss.