Der kurdische Politiker Doğan Erbaş ist Mitglied im Vorstand der Demokratischen Partei der Völker (HDP) und hat sich gegenüber ANF zu den Angriffen auf Kurd:innen in der Türkei und dem Zusammenhang mit der ungelösten kurdischen Frage und der Isolation Abdullah Öcalans geäußert.
Den Mord an einer kurdischen Familie in Konya bewertet Erbaş als Ergebnis des rassistischen und polarisierenden Diskurses der AKP/MHP-Koalition. Dass die Angriffe auf Kurd:innen zunehmen und eine chaotische Atmosphäre in der Türkei entsteht, führt er auf die ungelöste kurdische Frage zurück. Der HDP-Politiker ist davon überzeugt, dass Abdullah Öcalan die Schlüsselfigur in dieser Frage ist. Solange der PKK-Gründer und kurdische Vordenker von der Öffentlichkeit isoliert werde, lasse sich kein Problem lösen.
Hassdiskurse: „Verantwortlich ist die Regierung“
Doğan Erbaş verweist auf den Mord an der HDP-Mitarbeiterin Deniz Poyraz im Juni in Izmir und sagt über die zunehmende Aggression gegen das kurdische Volk: „In Afyon, Ankara und Konya hat ein Angriff nach dem anderen stattgefunden. Unserer Meinung nach ist der Hauptgrund dafür der diskriminierende, hetzerische, hass- und wuterfüllte Diskurs der Regierung und insbesondere des kleinen Koalitionspartners. Wir beobachten, dass die Medien in letzter Zeit dieselbe Sprache wie die Regierung verwenden. Und wir sehen, dass die Täter schnell wieder auf freien Fuß gesetzt werden. Die Justiz und die Medien erfüllen ihren Part bei dieser Angelegenheit. Sogar einige Namen aus der akademischen Welt übernehmen diesen Diskurs und verbreiten ihn in den Medien. Wir haben es mit einem breiten, systematischen und umfassenden Angriff und der Vorbereitung auf systematische Massaker zu tun. Häufig wird damit argumentiert, dass es sich um Einzelfälle oder persönliche Konflikte handelt, die man nicht übertreiben dürfe. Die Wahrheit zu vertuschen und gleichzeitig Demagogie zu betreiben, ist äußerst gefährlich. Damit wird weiteren Angriffen der Boden bereitet.“
Laut Erbaş findet im Moment ein geplantes Chaos statt, in dem gegen die HDP und die Kurd:innen gehetzt und das demokratische Zusammenleben der Völker von Grund auf gefährdet wird. In dieser Situation habe die politische und gesellschaftliche Opposition eine große Aufgabe zu erfüllen, so Doğan Erbaş:
„Wenn sich die Opposition der Gefahr nicht bewusst wird und die Situation als unwichtig und Einzelfälle abtut, werden die Angriffe zunehmen, denn darauf baut die Regierung offensichtlich ihre Zukunft auf. Sie geht von einem Machtverlust aus, wenn sie den politischen Willen des kurdischen Volkes und die HDP nicht schwächt und liquidiert. Momentan laufen sowohl der Kobanê-Prozess als auch das Verbotsverfahren gegen unsere Partei. Auf der einen Seite laufen juristische Einschüchterungsversuche, auf der anderen Seite gibt es die Tendenz, die Bevölkerung direkt physisch anzugreifen und die Täter zu ermutigen. Das war einer der erschreckenden Aspekte beim Mord in Konya: Der erste brutale Angriff auf die Familie hat bereits im Mai stattgefunden und von den vierzig Festgenommenen sind nur noch zwei inhaftiert. Alle anderen wurden nach und nach freigelassen. Daher gehen die Angreifer davon aus, dass ihnen nichts passiert und sie nach kurzer Zeit sowieso wieder entlassen werden. Sie werden dadurch ermutigt. Aus diesem Grund finden jetzt laufend Angriffe statt.“
Wie sich der Faschismus institutionalisiert
Zum Hintergrund der zunehmenden Angriffen erklärt Erbaş weiter: „Wohin man auch schaut in der Türkei, überall wird deutlich, wie sich der Faschismus institutionalisiert. Und was ist der Grund dafür, dass die kurdische Frage nicht gelöst wird? Wo muss nach einer Lösung gesucht werden? Wenn wir die herrschende Situation auf den wesentlichen Grund reduzieren, gelangen wir zum Isolations- und Foltersystem, dem Abdullah Öcalan auf Imrali ausgesetzt ist. Wir dürfen folgendes nicht vergessen: Jeder Tag, den Öcalan in Isolation verbringt, bedeutet die Fortsetzung und Steigerung des Krieges. Die gesamten negativen Entwicklungen, die Repression, die Angriffe und die mörderische Politik gegen das kurdische Volk stehen im Zusammenhang mit der Isolation Abdullah Öcalans.“
Während des Lösungsprozesses, der 2015 einseitig vom türkischen Staat abgebrochen wurde, sei Öcalan die „Luftröhre der Türkei“ gewesen, so Doğan Erbaş. Seine Isolation sei eine Politik der Rache, weil er für das neue Selbstbewusstsein des kurdischen Volkes verantwortlich gemacht werde. „Er ist ja nicht irgendeine Person, sondern der Vorreiter und Vertreter seines Volkes“, sagt der HDP-Politiker. Der Staat gehe davon aus, dass mit seiner Ausschaltung die gesamte kurdische Befreiungsbewegung liquidiert werden könne:
„Abdullah Öcalan hat etliche Male erklärt, dass er eine neue Phase einleiten will, dass das Problem seit 1993 verstanden und thematisiert worden ist, dass es Zeit für eine Lösung ist und er dazu beitragen will. Zwischen 2013 und 2015 hat die Türkei eine Zeit mit den wenigsten Problemen in der jüngeren Geschichte erlebt. Auf wirtschaftlicher, sozialer, politischer und kultureller Ebene ist in jeder Hinsicht eine günstige Ausgangslage entstanden. Abdullah Öcalan hat der Türkei Luft verschafft. Durch den missbräuchlichen Umgang der AKP mit dieser Situation und weil sie den Verhandlungstisch mit eigenen Händen umgestoßen hat, sind die Probleme entstanden, über die wir heute sprechen. Ohne die Aufhebung der Isolation und einen Neubeginn des Lösungsprozesses kann es keine dauerhafte Lösung der Probleme geben. Weil die Problematik so ernst ist, ist eine demokratische Lösung nur möglich, wenn Abdullah Öcalan wieder auf den Plan tritt. Das dürfen wir nicht übersehen. Solange die Isolation andauert, kann sich die Türkei nicht demokratisieren. Ohne eine Demokratisierung lässt sich die kurdische Frage nicht lösen. Und solange die kurdische Frage als Sicherheitsproblem behandelt wird, werden die Probleme zunehmend weitergehen.“
Abschließend stellt Doğan Erbaş fest: „Von Abdullah Öcalan gibt es seit langer Zeit keine Nachrichten. Es ist auch nicht bekannt, ob er an ihn gerichtete Briefe erhält. Trotz dieser Isolationsbedingungen befindet er sich seit seinem ersten Tag auf Imrali im Widerstand. Er nennt diesen Kampf die ,Imrali-Haltung', die er so zusammenfasst: Ja zu einer grundsätzlichen Einigung, nein zur Liquidierung.“