Mehr als 48 Stunden nach dem Mord an einer kurdischen Familie im zentralanatolischen Konya ist der Haupttäter Mehmet Altun weiter flüchtig. Der 33-jährige Türke hatte am Freitag sieben Mitglieder der Familie Dedeoğulları in ihrem Haus im Kreis Meram erschossen. Anschließend schüttete er in fünf Räumen Benzin aus und zündete das Wohngebäude an. Den Benzinkanister lagerte der Mann in seinem Fahrzeug. Inzwischen ist bekannt, dass die Dedeoğullarıs von zwanzig Kugeln aus der Waffe von Altun getroffen wurden.
Bisher dreizehn Festnahmen, Opferanwalt wird bedroht
Wie viele Personen insgesamt an dem rassistisch motivierten Massaker an der ursprünglich aus Qers (tr. Kars) stammenden Familie beteiligt waren, ist allerdings noch unklar. Die Generalstaatsanwaltschaft Konya hat bisher dreizehn Personen festnehmen lassen, darunter die Ehefrau von Mehmet Altun und dessen Eltern. Ob die drei wie Altuns Schwester Ayşe Keleş zu dem Lynchmob gehörten, der am 12. Mai die Dedeoğullarıs in ihrem Haus überfallen und komareif verprügelt hatte, ist ebenfalls noch nicht bekannt. Dem Rechtsbeistand der Familie werden wichtige Informationen zum Stand der Ermittlungen vorenthalten. So erfuhren die Anwältinnen und Anwälte die Identität des Haupttäters durch die Presse. Mit Abdurrahman Karabulut wird inzwischen einer der Rechtsanwält:innen bedroht. „Der Ehrenlose soll aufpassen, was er sagt. Wir werden kommen und ihm zeigen, wer wir sind“, hätten Unbekannte – vermutlich weitere flüchtige Mittäter – bei einem Anruf in der Kanzlei des Juristen geäußert.
Mehmet Altun
Antikurdische Gewalttaten: Konsequent täterorientiertes Handeln
Dass Karabulut auf seine Wortwahl achtgeben soll, wurde dem Anwalt auch von Engin Dinç, dem Chef der Polizei Konya, nahegelegt. Er habe ihn sogar aufgefordert, eine Erklärung abzugeben „oder wenigstens Tweets zu verfassen”, aus denen hervorgehen sollte, dass der „Vorfall“ aus einem „Konflikt zwischen Nachbarn” resultierte und kein rassistisches Motiv für die Morde vorliege. Die fehlende Umsetzung von Sicherheitsmechanismen nach dem Lynchversuch vom Mai für den Schutz der Dedeoğullarıs, die bis zuletzt mit dem Tod bedroht worden sind, und die Straflosigkeit dieser ersten Gewalttat – nicht die Opfer wurden unter Polizeischutz gestellt, sondern die Täter – kann zusammen mit den Äußerungen von Dinç als eine direkte Antwort des türkischen Staates erachtet werden, der antikurdische Hassverbrechen toleriert und durch sein konsequent täterorientiertes Handeln in gewisser Weise sogar bewilligt.
Polizeichef kein Unbekannter
Ohnehin ist Dinç kein Unbekannter. Als der armenische Journalist Hrant Dink am 19. Januar 2007 in Istanbul vor dem Gebäude seiner Zeitung Agos von einem türkischen Rechtsextremen erschossen wurde, war Dinç Abteilungsleiter des Geheimdienstes (MIT) in Trabzon, dem Wohnort des Täters. Dinç wusste nachweislich von der geplanten Ermordung, unternahm aber nichts zum Schutz von Dink. Beim Anschlag auf eine Friedenskundgebung am 10. Oktober 2015 am Bahnhof von Ankara mit 103 Toten und mehr als 500 Verletzten waren Dinç zwei Tage im Vorfeld die Namen der Attentäter bekannt. Diese Informationen ließ er der Antiterrorzentrale aber erst fast vier Stunden nach dem Anschlag zukommen. Mit Blick auf seine bisherige berufliche Karriere scheint es daher mehr als unglaubwürdig, dass die Polizei „mit Hochdruck” nach dem Haupttäter des Mordes an der Familie Dedeoğulları fahndet. Auch hinsichtlich der Darstellungen von Vertretern der spaltenden und polarisierenden Regierungskoalition aus AKP und MHP, wonach es sich bei den Morden in Konya und den anderen Angriffen der letzten Tage auf Kurdinnen und Kurden um Einzelfälle und persönliche Konflikte gehandelt habe, lässt eine den Opfern würdige rechtsstaatliche Aufarbeitung der Taten in weite Ferne rücken.