Als Abgeordneter der Demokratischen Partei der Völker (HDP) hat Garo Paylan gegenüber ANF die Auswirkungen der ökonomischen Krise der Türkei auf die Bevölkerung bewertet. Paylan vertritt die Ansicht, die jahrelange Bevorzugung von Waffen- und Panzer-Handel sei verantwortlich für die Schwächung der Ökonomie. Dass es keinerlei Investitionen in der Türkei gäbe, liege an der Abwesenheit von demokratischen Kriterien und gesellschaftlichem Frieden, benennt er die Ursachen.
„Kein Bürger investiert noch in die Zukunft, da er kein Vertrauen empfindet. Das schwächt die Ökonomie des Landes. Es gibt keine guten Produktionsbedingungen, also gibt es auch keine Produktion.
Nur in Zeiten mit einer demokratischen Fassade ist die Ökonomie in der Türkei gewachsen. Das lässt sich anhand von Beispielen der Vergangenheit belegen. Immer wenn die Türkei den Weg zur Demokratie verlassen hat, ging es mit der Wirtschaft abwärts. 2019 erleben wir eine tiefe ökonomische Krise aufgrund der Kriegs-, Waffen- und Gewaltpolitik der vergangenen vier Jahre und diese wird andauern und sich noch vertiefen. Einerseits verliert unser Geld durch die steigenden Kurse an Wert, gleichzeitig werden wir durch eine heftige Inflation immer ärmer. Die Kaufkraft ist von einer Erosion erfasst. Das hat besonders Auswirkungen auf große Teile der Gesellschaft mit geringem Einkommen. Um Verbindlichkeiten ihrer Kriegspolitik zu finanzieren, erhöht die AKP-Regierung die Preise der Dinge des täglichen Bedarfs. Das ist die Ursache für die ernsthafte Erosion der Kaufkraft“, sagt Paylan.
Die von der Macht erhobene Steuer heißt Inflation
Die für Beamte, Beschäftigte im Öffentlichen Dienst und Arbeiter*innen jetzt geplanten Lohnerhöhungen zeigen an, dass dieser Zustand voranschreitet, führt Garo Paylan aus: „Derzeit befindet der Mindestlohn sich unter der Hungergrenze, die bei 2.400 TL liegt. Die Regierung schlägt den Beamten und Arbeiter*innen eine Erhöhung von vier oder fünf Prozent vor und damit einen Mindestlohn von 2.020 TL. Dass dieser Zustand voranschreitet, bedeutet, dass auch die Armut andauern wird. Allein der Gas-Preis ist für die Verbraucher um 64 Prozent gestiegen. Dies vor dem Hintergrund, dass Beamte eine Erhöhung von acht Prozent und Arbeiter*innen eine Erhöhung von zehn Prozent innerhalb eines Jahres erhalten haben. Damit zeichnet sich ab, dass das Auskommen 2020 schwieriger und damit das Leben nicht einfacher werden wird.
In den vergangenen zwei Jahren hat uns allen die hohe Inflationsrate eine spürbare Menge unseres Einkommens aus der Tasche gestohlen. Die Kaufkraft der Arbeiter, öffentlich Beschäftigten, Rentner und Handwerker ist schwer erschüttert worden. Die Regierung hat uns alle in irgendeiner Weise in die Kriegspolitik, die große Inflation aufgrund einer falschen Politik, in die Kurssteigerungen und Zinsspirale verwickelt. Unsere Ressourcen gehen in den Krieg, die Waffen und die Zinsen. Wenn diese Politik finanziert werden kann, dann nur mit dem Inflations-Diebstahl der Kaufkraft aus den Taschen der Arbeiter*innen. Eigentlich kann man die Inflation als eine Art von der Macht erhobenen Steuer bezeichnen, mit der alle ein großes Maß an Kaufkraft verlieren“, macht Paylan weiter klar.
Die Ausgaben für den Krieg sind um ein Vierfaches gestiegen
Paylan weist darauf hin, dass sich die Ausgaben für den Krieg seit 2014 vervierfacht haben und die Regierung 82 Millionen Menschen mit der Kriegspolitik arm gemacht hat. „Das Budget im Jahr 2015, das noch als ein weiteres Jahr des Friedensprozesses begann, war 2014 festgelegt worden. Von diesem Budget waren 40 Milliarden, dass heißt nach altem Kurs 40 Billionen, für den Bereich Sicherheit vorgesehen. Das war ein äußerst geringer Betrag, denn der Friedensprozess lag beim Staat und die Ressourcen sind nicht in Panzer, Munition und Gewehre gegangen. Im Budget von 2019 waren für diesen Bereich 150 Milliarden vorgesehen, dass heißt im Vergleich nach altem Kurs 150 Billionen, das sind nahezu viermal so viel.
Das bedeutet: Alle Ressourcen werden für Panzer, Munition und Gewehre abgezweigt, für die S-400 aus Russland, die geplanten F35 aus den USA… Wo macht die Regierung Einsparungen, um diese Waffen zu kaufen? Indem Beamten, dem Öffentlichen Dienst und Arbeitern Erhöhungen gestrichen werden und Landwirte weniger Unterstützung erhalten. Damit werden 82 Millionen Menschen in die Armut getrieben. Alle Bürgerinnen und Bürger sollten die Kriegspolitik hinter dieser Armut sehen“, ruft Paylan auf.
In Kurdistan wirkt die Krise noch verheerender
Krieg macht alle arm, sagt Paylan und betont, in den Gebieten, in denen Krieg herrscht, seien die Auswirkungen der Krise noch gravierender. „In den Gebieten, in denen der Krieg am heftigsten tobt, ist die Armut noch größer. Denn in den Provinzen baut natürlich niemand etwas auf, kann es keine Investitionen geben. Alles wird in andere Städte, in andere Produktionsstätten getragen. Leider müssen wir das in den letzten Jahren so erleben. Und in den mehrheitlich auf Ackerbau und Viehwirtschaft aufbauenden kurdischen Provinzen haben die Verbote, Weiden und Felder zu betreten, zu noch Schlimmerem beigetragen. Auch sind die Unterstützungsleistungen für die Landwirtschaft bis auf das Letzte zurückgeschraubt worden.
In Amed zum Beispiel erzählen die Baumwollbauern, dass die Preise für Samen, Benzin, Düngemittel etc., um 50 oder sogar bis zu 100 Prozent gestiegen sind. Dadurch wird die Bevölkerung teilweise gezwungen, Ackerbau und Viehwirtschaft aufzugeben. Und natürlich ist die ökonomische Krise dort, wo es Gefechte gibt und dort, wo Rathäuser zwangsverwaltet werden, noch viel größer”, so Paylan.
Es gibt acht Millionen Arbeitslose
Der HDP-Abgeordnete Garo Paylan teilt ferner mit, dass das türkische Statistikamt TÜIK in seinem veröffentlichten Arbeitslosenbericht nicht die Realität widerspiegelt; die inoffiziellen Arbeitslosenzahlen sind um ein vielfaches höher. Er macht hierzu folgende Ausführungen: „Die Arbeitslosigkeit lag 2001, zu einer Zeit, als es eine noch tiefere ökonomische Krise gab und die AKP an die Macht kam, bei um die neun Prozent. Denken Sie, nach 17‒18 Jahren AKP-Macht sind wir bei 13 Prozent Arbeitslosigkeit und diese Zahl spiegelt nicht die tatsächliche Situation wider. Denn inzwischen gibt es Millionen Menschen, die aufgegeben haben, nach Arbeit zu suchen. Offiziell sind es vier Millionen Arbeitslose, zusammen mit denen, die längst aufgegeben haben, sind es bald acht Millionen Menschen ohne Arbeit.
Leider haben wir aufgrund der Kriegspolitik, der Sicherheitspolitik, einer falschen Beschäftigungs- und einer falschen Bildungspolitik inzwischen acht Millionen Arbeitslose. Das heißt, es gibt in jeder Familie mindestens eine arbeitslose Person. In den Familien, die ich in Amed besuchte, gibt es heute viel mehr Arbeitslose. Alle Ressourcen auf den Krieg auszurichten und noch dazu auf den Palast Erdoğans, hat eine große Unsicherheit verursacht, die zu Arbeitsstellenverlusten geführt hat. Die offizielle Arbeitslosenzahl von jungen Menschen liegt bei 25 Prozent. Zählen wir die hinzu, die aufgegeben haben, Arbeit zu suchen, kommen wir bei 35 Prozent an. Von drei jungen Menschen ist einer arbeitslos und ein weiterer lebt an der Hungergrenze.
Die AKP versucht, diese tiefe ökonomische Krise mit einer nationalistischen Politik zu kaschieren. Um zu verhindern, dass über die Arbeitslosenquote gesprochen wird, werden staatliche Treuhänder in den Kommunalverwaltungen eingesetzt und eine Politik der Spannung erzeugt. Die Gesellschaft wird in Ghettos gesperrt und polarisiert.
Die Gesellschaft darf das nicht einfach hinnehmen. Jeder und jede muss die Kriegspolitik der AKP kritisieren, damit wir wieder Arbeit, Essen und Brot haben.“