Handelt es sich bei der Wahlniederlage der AKP am 23. Juni in Istanbul um das Ende einer 17-jährigen Regierungsmacht oder nur um einen relativen Rückgang? Mit Istanbul hat die AKP nicht nur ein Symbol verloren, sondern auch das Wirtschaftszentrum der Türkei. Die Partei ist in vielen Bereichen in den Fokus der Diskussion geraten: Das Ungleichgewicht in der Außenpolitik, die Frage einer Parteienneugründung, das weiterhin ungeklärte Präsidialsystem und natürlich die Wirtschaftskrise. Und was machen die AKP und Erdoğan angesichts dieser Debatten? Der Journalist Hakki Özdal bezeichnet die Situation als den Anfang vom Ende, aus seiner Sicht ist der Zug für die AKP entgleist. Wir haben mit ihm über die Situation nach der Wahl und den Zustand der AKP gesprochen.
Was bedeutet das Ergebnis der Oberbürgermeisterwahl in Istanbul für die AKP? Handelt es sich um eine Niederlage oder um einen relativen Rückgang?
Bereits bei den Wahlergebnissen vom 31. März handelte es sich um eine Niederlage, aber die Wiederholung der Wahl am 23. Juni war ein noch größerer Reinfall. Zu dieser Frage gibt es wohl einen allgemeinen Konsens. Unter den bestehenden Bedingungen geht es nicht um einen Rückgang, sondern um ein Ergebnis, das als „Anfang vom Ende“ der AKP betrachtet werden kann. Selbst wenn einige politische Positionen, für die die AKP steht oder die sie einst vertreten hat, weiter Bestand haben und sie im politischen Leben der Türkei weiter existiert, ist die AKP als ein Zug, der allein von Erdoğan gelenkt wird, bereits seit langer Zeit entgleist.
Es wird über eine neue Parteigründung von Ahmet Davutoğlu, Abdullah Gül und Ali Babacan gesprochen. Findet diese Diskussion im Einverständnis von Erdoğan statt? Ist die AKP inzwischen soweit aufgerieben, dass sie sich nicht davon erholen kann und die Herrschenden nach einem Äquivalent suchen?
Dass diese Debatte im Einverständnis von Erdoğan stattfindet, ist ausgeschlossen. In der politischen Geschichte der Türkei haben derartige Auflösungsprozesse immer zu Spaltungen im politischen Machtblock und einer neuen Suche geführt. Auf ähnliche Weise ist die DP in der zweiten Hälfte der 1940er Jahre aus der CHP heraus entstanden und auch die Atomisierung der ANAP in den 1990er Jahren hat sich aus einem solchen Prozess ergeben. Ob bereits von einem Äquivalent gesprochen werden kann, weiß ich nicht, aber die Neubildungen sind Teil der Suche nach einer AKP, die nicht der jetzigen AKP entspricht. Der Auflösungsprozess soll innerhalb des Systems gehalten und der Kapitalismus in der Türkei ohne große Erschütterungen weitergehen.
Hakkı Özdal
Die Herrschenden in der Türkei suchen sicherlich nach einem „neuen Zentrum“, aber auf der anderen Seite hat der CHP-Kandidat Imamoğlu viele Stimmen in Stadtteilen bekommen, in denen die AKP eigentlich stark ist, vor allem in Bezirken mit einer großen Unterschicht. Können wir das als ein Signal dafür betrachten, dass sich durch die Wirtschaftskrise auch die Arbeiterklasse von der AKP löst?
Ja, ganz bestimmt. Für die zunehmende Distanz der Klasse der Werktätigen von der AKP gibt es meiner Meinung nach zwei Gründe. Der erste ist natürlich die Wirtschaftskrise und die Tatsache, dass die Hauptlast dieser Krise auf die arbeitende Bevölkerung fällt. Die Inflation, die sich auf die Lebensmittelpreise auswirkt, und die schnell ansteigende Arbeitslosenquote sind Anzeichen, die direkt die Klassen der Werktätigen betreffen. Der zweite Grund ist, dass zeitgleich zu der schnellen Verarmung sichtbarer wird, wie eine Minderheit an der Spitze der AKP-Pyramide schnell und maßlos reicher wird. Die AKP-Regierung hat eine wichtige Etappe bei der Umsetzung des als „24.-Januar-Beschlüsse“ bekannten neoliberalen Programms nach dem Militärputsch vom 12. September 1980 übernommen. Für die Werktätigen, die ohne Organisation und Sicherheiten mit sogenannter flexibler Arbeit ausgebeutet werden, ist der „Wohlstand durch Verschuldung“, für den die AKP in ihren Anfangsjahren mit günstigen Krediten gesorgt hat, zerbrochen. Die Werktätigen sehen den Abgrund zwischen ihren eigenen rückläufigen materiellen Bedingungen und dem zunehmenden Reichtum der neuen Elite. Dieser Abgrund löst auch politische, religiöse und kulturelle Vorurteile auf. Darüber hinaus haben die Werktätigen eine andere ökonomische und politische Auffassung als die AKP in ihren Anfangsjahren. Anfang der 1990er Jahre kamen mit dem Zusammenbruch der Landwirtschaft die Massen aus Anatolien in die großen Städte, vor allem nach Istanbul. Hier wurden sie in die Position unqualifizierter Arbeiter, Tagelöhner oder Arbeitsloser gedrängt, aber sie brachten ihre konservativen und bigotten Einstellungen vom Land mit in die Stadt. An ihrer Stelle gibt es jetzt eine zweite und sogar dritte Generation, die sich dem Stadtleben angepasst und vom Fanatismus der Landbevölkerung befreit hat. Diese Menschen haben auf eine Weise miterlebt, wie sich die Regime-Eliten, die denselben Ursprung wie sie selbst haben, bereichern. Sie sehen die Schere zwischen den Klassen und distanzieren sich entsprechend. Eigentlich geht es nicht nur um die AKP und Erdoğan, sondern um eine Sackgasse, in die die Politik seit über zwanzig Jahren geführt hat. Aus diesem Blickwinkel muss auch die Suche der Herrschenden in der Türkei nach einer sofortigen Antwort auf das entstandene Szenario innerhalb des Systems betrachtet werden.
Eine der größten Dynamiken, die Erdoğan hat verlieren lassen, waren die kurdische politische Bewegung und die HDP. Ist für Erdoğan in der Kurdenpolitik ein unumkehrbarer Weg eingeschlagen worden? Und gibt es in der Partei, die eventuell neu gegründet wird, oder in der hypothetischen Veränderung in der allgemeinen Politik die Tendenz, die bestimmende Rolle der Kurden zu akzeptieren?
Die kurdische politische Bewegung hat bereits früher unter schweren Bedingungen Politik gemacht und war in vielerlei Hinsicht bestimmend. Die Politik, die von der Verhaftung der DEP-Abgeordneten im Parlament 1994 symbolisiert wird, war für das damalige Regime eine Machtdemonstration und gleichzeitig ein hoffnungsloses und zermürbendes Beharren angesichts der historischen Realität. Die repressive Politik, die die aktuelle Regierung seit einer Weile macht, hat denselben Inhalt. Die Wahlergebnisse vom 31. März und 23. Juni haben bewirkt, dass das allseits verständlich geworden ist. Erdoğan und seine AKP haben meiner Meinung nach mit ihrer insbesondere seit 2015 geführten Politik die Chance verwirkt, Akteure eines dauerhaften und würdevollen Friedens zu sein. Politische Akteure, die mit dem kurdischen Volk und seiner internationalen Existenz keinen Frieden schließen und nicht über eine solche Perspektive verfügen, werden in der Türkei von morgen nicht mehr existent sein. Und diejenigen, die sich als „Akteure der neuen Zeit“ verstehen, machen zumindest im Moment den Eindruck, als ob sie diese Tatsache verstanden haben.