In einem offenen Brief haben sich unlängst hundert Menschen des öffentlichen Lebens und der Politik an das Antifolterkomitee des Europarates (CPT) gewandt und dringlich eine Klärung der Lage von Abdullah Öcalan gefordert. Der Begründer der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) befindet sich seit seiner völkerrechtswidrigen Verschleppung aus Kenia in die Türkei vor 25 Jahren in politischer Geiselhaft auf der Gefängnisinsel Imrali – die meiste Zeit davon in Isolation. Den letzten Anwaltsbesuch erhielt der 75-Jährige 2019, letztmaliger Familienbesuch kam 2020 zustande. Im März 2021 wurde bedingt durch eine internationale Protestwelle ein Telefongespräch zwischen Öcalan und seinem Bruder ermöglicht. Das wurde allerdings nach wenigen Minuten aus unbekannten Gründen unterbrochen. Seitdem gibt es kein Lebenszeichen mehr von Öcalan.
Die Unterzeichnenden des offenen Briefs bewerten diese Haftbedingungen als „menschenrechtswidrig und unmenschlich“ und sprechen von „Isolationsfolter“, denen Öcalan ausgesetzt sei. Sie fordern das CPT auf, tätig zu werden und eine Delegation zur Untersuchung der Situation Öcalans nach Imrali zu entsenden, um sich über sein Wohlergehen zu informieren. Das fordert auch Professor Dr. Norman Paech, emeritierter Völkerrechtler und Buchautor aus Hamburg, der zu den Unterzeichnenden des Appells gehört. Im Gespräch mit ANF bezeichnete Paech die Situation von Öcalan als vollkommen illegal. „Nach den Kategorien des internationalen Rechts ist eine solche totale Isolation völkerrechtswidrig“, so Paech. Er kritisiert, dass das CPT, das sich in der Vergangenheit selbst gegen die gegenwärtigen Haftbedingungen auf Imrali ausgesprochen hatte, seine eigenen Entscheidungen nicht durchsetze.
Norman Paech war von 1975 bis 1982 Professor für Politische Wissenschaft an der Einstufigen Juristenausbildung der Universität Hamburg, bis 2003 lehrte er öffentliches Recht an der Hochschule für Wirtschaft und Politik in Hamburg. Er veröffentlichte zahlreiche Publikationen zu völkerrechtlichen Fragen und war im März 2018 beteiligt an einem Tribunal gegen die türkische Staatsführung in Paris. Er befasst sich seit Jahren intensiv mit dem kurdisch-türkischen Konflikt, besuchte mehrfach Kurdistan und führte dabei unter anderem Gespräche mit dem KCK-Vorsitzenden Cemil Bayik. 1996 lernte er Abdullah Öcalan in Syrien persönlich kennen. Ein Besuch bei ihm Jahre später auf der Gefängnisinsel Imrali wurde Paech von der türkischen Justiz verweigert.
Verantwortlich für die Situation Öcalans sei Paech zufolge aber auch die EU, die nicht dazu beitrage, dass Beschlüsse ihrer Gremien von Ankara umgesetzt werden. „Aber Sie wissen; aus mehreren Gründen ist Erdogan und vor allen Dingen die Türkei außerordentlich politisch wichtig für den Westen. Einerseits im NATO-Bereich, aber andererseits auch als Barriere gegenüber Flüchtlingen, sei es aus Afghanistan oder aus Syrien. Und man wagt nicht, Erdogan unter Druck zu setzen. Das ist das große Problem. Denn diese Isolationsfolter bedeutet nichts anderes, als dass der politische Einfluss von Abdullah Öcalan, obwohl niemand ihn hört und sehen kann, in der kurdischen Community immer noch gewaltig ist. Und das fürchten sie, das wollen sie ausschalten. Sie wollen sozusagen von ihrer Position der Isolation und der Trennung des kurdischen Volkes nicht ab. Das ist der Hintergrund. Und da ist derzeit die EU nicht in der Lage und auch nicht bereit, sich für Öcalan und eigentlich für das internationale Recht einzusetzen.“
Neben dem CPT gibt es noch ein weiteres Komitee, dessen Aufgabe es ist, auf internationaler Ebene darauf zu achten, dass Folter nicht vorkommt und von vornherein verhindert wird: Das „Subcommittee on Prevention for Torture“ (SPT) ist ein Organ der Vereinten Nationen (UN). Der Name der Institution fiel in der Vergangenheit häufig im Zusammenhang mit dem WikiLeaks-Gründer Julian Assange, nicht aber wegen der Haftbedingungen Öcalans. Norman Paech meint, dass das damit zusammenhängt, „weil die politische Position der PKK in Europa immer noch die ist, dass sie als eine terroristische Organisation angesehen wird“. Er halte das für falsch und weist auf ein Urteil des belgischen Kassationshofs von 2020 hin, wonach die PKK keine „terroristische Organisation”, sondern eine Partei in einem bewaffneten Konflikt ist. „Es bedarf eines politischen Umschwungs, der darin besteht, die PKK als das zu bezeichnen, was sie ist. Nämlich eine politische Partei, die nicht anderes will als Autonomie und Selbstverwaltung für das Volk. Und das sind Forderungen, die in jedem demokratischen Staat durchgesetzt werden können“.
Von dem Kurswechsel in Sachen PKK, der sich nach dem Urteil des obersten Berufungsgerichts in Belgien vollzog, dürfte Deutschland im EU-Vergleich am weitesten entfernt sein. Das Land gilt als Vorreiter der antikurdischen Kriminalisierung. Norman Paech hält das für eine „sehr verhängnisvolle Politik“. Sie entspreche nicht den politischen Tatsachen und hänge mit den deutsch-türkischen Beziehungen zusammen, auch im Rest Europas. Die europäischen Regierungen seien Erdoğan wegen der Abschottung der Grenzen vor der Migration von Flüchtlingen verpflichtet. „Sie zahlen ihm nicht nur Milliarden, sondern erfüllen auch seine politischen Wünsche. Wir haben auch bei der Frage des NATO-Beitritts von Schweden gesehen, dass dort Erdogan Trümpfe in der Hand hat gegenüber der PKK und gegenüber den Regierungen. Ich halte das für eine falsche Politik. Aber das ist ein Prozess, der sich nicht auf der juristischen, sondern eben auf der politischen Ebene abspielt. Und da müsste es eine Veränderung der deutschen Politik geben, wie in so manchen internationalen Bereichen auch.“
„Absolut völkerrechtswidrig“ seien Paech zufolge auch die Drohungen der Türkei, gegen die Demokratische Selbstverwaltung in der Region Nord- und Ostsyrien (DAANES) zu intervenieren, sollte es dort wie angekündigt zu Kommunalwahlen kommen. Erdoğan und sein Außenminister Fidan erklärten in gewohnt martialischer Manier, man werde nicht zulassen, dass ein „Terroristan“ an der türkischen Grenze etabliert werde. „Die Aggression der Türkei begann ja sehr viel früher, als sie in Syrien einmarschiert ist und die Region Efrîn in Besitz genommen hat“, so Paech. Er wirft dem türkischen Staat vor, einen Bevölkerungstausch in den besetzten Gebieten Nordsyriens zu betreiben, indem die kurdische Bevölkerung vertrieben und an ihrer Stelle arabischstämmige Menschen, darunter auch Flüchtlinge, dort anzusiedeln. All diese Handlungen, und auch die Chemiewaffenangriffe der türkischen Armee im Nordirak bzw. in Südkurdistan stünden im vollkommenen Widerspruch zum humanitären Völkerrecht. Dennoch würden sie vom Westen und den NATO-Staaten, einschließlich Deutschlands, geduldet. „Und das ist das Problem", erklärte Norman Paech.