27 Jahre sind mittlerweile vergangen, seit die Arbeiterpartei Kurdistans (Partiya Karkerên Kurdistanê, PKK) in Deutschland verboten worden ist. Am 26. November 1993 verfügte der damalige Innenminister Manfred Kanther (CDU) das Betätigungsverbot gegen die PKK – zeitgleich setzte eine flächendeckende tiefgreifende Repression gegen die kurdische Bewegung, ihre Institutionen und ihre Anhänger*innen ein, die bis heute zu spüren ist. Zahlreiche politische Aktivistinnen und Aktivisten wurden seitdem verhaftet und der Mitgliedschaft in einer „terroristischen Vereinigung“ (§ 129a StGB) beschuldigt. Diese politische Form der Kriminalisierung fand und findet stets unter dem Deckmantel des Rechts statt. Maßgeblich hierfür war und ist bis zum heutigen Tage die politische, ökonomische und militärische Zusammenarbeit zwischen Deutschland und der Türkei.
Die kurdische Politikerin und Nahostexpertin Nilüfer Koç hat sich in einem Gespräch mit ANF über die Hintergründe, die Geschichte und die Auswirkungen des PKK-Verbots in der Bundesrepublik geäußert. Koç war von 2013 bis 2019 Ko-Vorsitzende des Kurdistan Nationalkongresses und erlebte den Zeitpunkt des Verbotserlasses 1993 als Aktivistin in Deutschland hautnah mit.
Wenn wir auf 27 Jahre PKK-Verbot zurückblicken, was für ein Bild entsteht dann?
Eines möchte ich ganz offen sagen, insbesondere unser Volk in Deutschland, aber auch im restlichen Europa hat in den vergangenen 27 Jahren permanent großen Widerstand gezeigt. Aufgrund der Repression des deutschen Staates erhielten manche keine Staatsbürgerschaft, manche verloren ihren Arbeitsplatz, andere erhielten Geldstrafen und einige landeten sogar im Gefängnis. Das ist die Prozedur, die seit 27 Jahren gegen Kurdinnen und Kurden angewendet wird. Aber in der bevorstehenden Phase wird es für den Staat zunehmend schwieriger werden, am Verbot festzuhalten. Die politische Entscheidung, die die Bundesregierung 1993 juristisch zu bemänteln versuchte, ist inzwischen weder der Öffentlichkeit noch der Bevölkerung noch länger zu vermitteln.
Für die kurdische Gesellschaft hatte das Verbot ohnehin keine große Bedeutung. Es handelt sich um ein politisiertes Volk mit Nationalbewusstsein und daher kennt es die Gründe des Verbots. Im 27. Jahr des Verbots greift die juristische Bemäntelung in keiner Weise mehr. Die Mehrheit der PKK-Prozesse zeigt diese Situation ganz deutlich. Insbesondere die Begründungen der Richter sind, wenn ich es so sagen darf, einfach nur Blödsinn. Sie können die eigene Öffentlichkeit nicht mehr überzeugen. In der nächsten Zeit wird das noch schwerer werden, denn der Kassationsgerichtshof in Belgien hat festgestellt, dass die PKK keine „terroristische Organisation”, sondern eine Partei in einem bewaffneten Konflikt ist. Jetzt führen viele, die gegen das Verbot kämpfen, dieses Urteil als Grund an.
Nilüfer Koç | Foto: ANF
Halten Sie den Kampf gegen dieses Unrecht für ausreichend?
Auf rechtlicher Ebene hat sich dieser Kampf institutionalisiert. Rechtshilfevereine wie Azadî und auch der Internationale Verein für Menschenrechte und Demokratie (MAF-DAD) wurden in diesem Zusammenhang gegründet. Es wurden und werden unzählige Berichte von Fachleuten erstellt. Auf europäischer Ebene gibt es sowohl die Gerichtsentscheidung in Belgien als auch ein Verfahren zur Streichung der PKK von der EU-Terrorliste in Luxemburg. Mit der Rojava-Revolution spüren deutsche Symphatisant*innen der kurdischen Bewegung und der PKK sowie mit ihr befreundete Kreise die Auswirkungen des PKK-Verbots immer deutlicher. Dies hat den gemeinsamen Kampf gegen das Verbot gestärkt. Die Proteste zum Jahrestag der Verbotsverfügung werden mehrheitlich von unseren deutschen Freundinnen und Freunden angeführt. In der Öffentlichkeit wird das PKK-Verbot immer mehr gegen ihren Kampf gegen den Panislamismus Erdoğans im Mittleren Osten und gegen den IS in Rojava abgewogen. Deswegen ist die öffentliche Meinung für eine Neubewertung des Verbots. Viele sagen: „Wenn man auf juristischer Ebene ein Verbot verhängen will, dann sollte sich dieses gegen den Erdoğan-Faschismus richten.“ In diesem Sinne gibt es Diskussionen in Richtung einer Aufhebung des PKK-Verbots.
In den letzten 27 Jahren wurden die Maßnahmen gegen den kurdischen Freiheitskampf verschärft. Wird sich diese Politik des deutschen Staates in naher Zukunft ändern?
Die Bundesregierungen haben in den letzten 27 Jahren oft gewechselt – Sozialdemokraten und Grüne, Große Koalitionen und verschiedene andere Konstellationen – aber das Verbot wurde immer weiter verschärft. Die Ermittlungen gegen Kurd*innen entwickelten sich von der Kriminalisierung nach 129a und 129b, von Vorwürfen der Bildung einer terroristischen Vereinigung hin zum Paragraphen 129 der Bildung einer kriminellen Vereinigung, denn der Begriff des Terrors überschreitet die juristische Dimension. Dieser Wechsel hin zu einer „unpolitischen“ Form der Kriminalisierung trifft mit der wachsenden öffentlichen Sympathie für die von der PKK angeführte kurdische Freiheitsbewegung zusammen. Die Öffentlichkeit war nicht mehr bereit, den Terrorvorwurf zu schlucken. Dieser Wechsel hat sicher auch etwas mit der deutschen Außenpolitik zu tun.
Gleichzeitig mobilisiert Erdoğan überall die von ihm kontrollierten faschistischen Gruppen. Sollte Angela Merkel ihn kritisieren, würde Erdoğan das gleiche machen, was er mit Emmanuel Macron getan hat. Es gibt hier unzählige Moscheen und faschistische Vereine unter der Kontrolle Erdoğans. Jetzt wird seine Politik als eine Bedrohung für Deutschland betrachtet. Das zeigt deutlich, dass die Achse Berlin-Ankara eine schwierige Zeit durchlebt.
Wie steht es mit dem Unterfangen, die PKK von EU-Terrorliste zu bekommen?
Vor dem Europäischen Gerichtshof in Luxemburg findet ein wichtiger Prozess über die Streichung der PKK aus der EU-Terrorliste statt. In der ersten Instanz des Verfahrens wurde den Antragstellenden für die PKK Recht gegeben. England und die Türkei legten Widerspruch ein und das Verfahren wurde neu aufgerollt. Das Recht in Europa steckt hier in einer Sackgasse. Es wurde ja auch nach Jahrzehnten eine historische Aussage zum Palme-Mord gemacht und offiziell verkündet, dass der Mord in keiner Weise mit den Kurdinnen und Kurden in Verbindung steht. Ich möchte hier Folgendes sagen:: Mit dieser Aussage zu Olof Palme hat es angefangen, das PKK-Verbot in Deutschland und die Aufnahme der PKK auf die EU-Terrorliste, all das befindet sich in einem Auflösungsprozess. Diese Rechtslogik greift einfach nicht mehr. Es gibt auch eine tiefgreifende Differenzierung des kurdischen Freiheitskampfes, insbesondere in Hinsicht auf die Qualität, denn das Ausmaß des Kampfes von Abdullah Öcalan hat den Mittleren Osten überschritten und globalisiert sich. Gegenüber dem AKP-Faschismus befinden sich die europäischen Staaten und die Gesellschaft am gleichen Punkt, sie fragen sich: „Wir können wir uns von diesem Fluch befreien?“ Außerdem wird zum ersten Mal seit 21 Jahren das System von Imrali von Europa kritisiert.
2021 stehen die Bundestagswahlen bevor, welche Veränderungen sehen Sie für die Nach-Merkel-Ära?
Die Kurdinnen und Kurden haben eine eigene Politik entwickelt und verfügen über ein völkerrechtlich akzeptiertes Konzept. Sie zielen darauf ab, eine demokratische Gesellschaft zu schaffen und unter der Führung von Frauen die Spannungen im Mittleren Osten zu überwinden. Dieses Konzept wird von der Öffentlichkeit in Deutschland mit aufrichtiger Sympathie angenommen. Nach den Bundestagswahlen 2021 werden mit großer Wahrscheinlichkeit die Grünen Teil der Regierung sein, jedenfalls bereiten sie sich darauf vor. Wenn wir es aufmerksam beobachten, verfolgen die Grünen im Moment viele Punkte, welche zuvor immer von der Linken auf die Tagesordnung gebracht wurden. So führen sie den Diskurs zum Verbot der „Grauen Wölfe“ und anderer faschistischer türkischer Organisationen an. Die Grünen gehörten 1993 allerdings zu den Parteien, die die PKK am schärfsten angegriffen haben. Wer jedoch auf die Stimmen der jungen Generation und der Ökologiebewegung hört, will die Kräfte, die gegen die Klimakatastrophe kämpfen und auch jene, die Frieden im Mittleren Osten wollen, einbeziehen und sich auf diese Weise selbst auf die Regierung vorbereiten.
Und auch wenn sie sich nicht direkt zum kurdischen Kampf und der kurdischen Bewegung bekennen, so steht doch eine Anti-Erdoğan-Haltung auf der Tagesordnung. Es wird eine Veränderung geben, denn wenn man die Politik gegenüber Iran, Irak, Syrien oder der Türkei kritisiert, ist es nicht möglich, dabei die kurdische Gesellschaft zu ignorieren. Die Kurdinnen und Kurden stellen mittlerweile eine De-Facto-Macht dar und die PKK ist eine wichtige Akteurin im Mittleren Osten. Sie macht eine Politik, welche großen Einfluss auf die Regionalmächte hat. Darüber werden die Grünen, auch wenn sie an der Regierung sind, nicht hinwegsehen können. Deswegen wird der Wandel auf die Tagesordnung kommen. Natürlich wäre es nicht realistisch, einen radikalen Wandel zu erwarten. Welche Haltung die neue Regierung beziehen wird, hängt von den Kurdinnen und Kurden ab. Ihr Erfolg im Kampf wird dies entscheiden.
Am 27. November feiert die PKK ihr 42. Gründungsjubiläum. Wie ist ihre Entwicklung im globalen Maßstab zu betrachten?
Ich will zunächst bei dieser Gelegenheit denen gedenken, die jedes Opfer in Kauf genommen und ihr Leben für die Freiheit der Völker gegeben haben. Ich möchte aller im Freiheitskampf gefallenen Menschen gedenken. Natürlich möchte ich auch Abdullah Öcalan als Hauptarchitekten dieses Kampfes voller Respekt grüßen. Wir sind dankbar für seine Bemühungen, uns als Volk dieser Welt in eine Position zu bringen, auf das voller Hoffnung aufgeschaut wird. Als Angehörige dieses Volkes und vor allem als kurdische Frau bin ich dankbar, dass er uns von einer von allen Seiten missachteten Position in eine Lage verholfen hat, in der für Frauen und die Welt Hoffnung auf Freiheit aufgekommen ist. Wohin auch immer wir heute gehen, wenn wir „Kurdin“ sagen, verstehen die Menschen „PKK und Öcalan“. Natürlich ist dies ein Ergebnis der Revolution von Rojava. Ob Klimabewegung, Umweltbewegung, Frauenbewegung oder Menschen, die sich mit gesellschaftlicher und sozialer Ökonomie beschäftigen, alle wenden ihren Blick auf einen Ort, nämlich nach Rojava. Das Zentrum der Menschen, die mit Hoffnung kämpfen, ist Rojava, dort wo sich das Paradigma von Abdullah Öcalan in der Praxis konkretisiert. Von den Philippinen über Bangladesch, von Indien bis Kenia, von Südafrika bis Pakistan, von Lateinamerika bis Afghanistan, alle haben Interesse am Kampf der Kurdinnen und Kurden. Wir müssen von einer Bewegung sprechen, die alle gesellschaftlichen Unterschiedlichkeiten umarmt und die Freiheit vergesellschaftet. Wir sprechen von der Realität einer Bewegung in der ein im nationalen Sinne, im regionalen Sinne und im globalen Sinne gewachsenes Denken in 42 Jahren institutionalisiert wurde.