Nationalismus, Krieg und „Erbfeindschaften“

Es ist notwendig, dass linke Kräfte gemeinsam mit Ukrainern und Russen eine Alternative zur „Friedensbewegung“ der Mainstream-Medien und den etablierten Parteien formieren, meint Toros Sarian mit Blick auf alte Denkmuster bei einigen Linken.

In der durch den Ukraine-Krieg entfachten Debatte innerhalb linksorientierter Kreise wird manches übersehen, was aus linker Sicht eigentlich nicht passieren sollte. Über den Wert der verschiedenen Analysen über die „geopolitische“ Entwicklung der vergangenen Jahrzehnte kann es unterschiedliche Meinungen geben, aber am Ende ist entscheidend, welche nach außen deutlich erkennbare Haltung die Linken angesichts von Krieg, Aufrüstung und zunehmendem Nationalismus auf allen Seiten einnehmen. Bürgerliche, liberale und linksliberale Kreise, die vorgeben, eine ausgewogene, neutrale und objektive Position zu vertreten, sind gegenwärtig weit davon entfernt. Fast alle politisch-gesellschaftlichen Kräfte lassen sich von der Kriegshysterie von Politik und Medien mitreißen. Seit der Gründung des Bundestags waren dort noch nie so viele Parteien vertreten, aber in der Frage des Ukraine-Krieges herrscht über alle sonstigen Differenzen hinweg eine große Einigkeit, die stutzig machen müsste. Nach der Rede von Selenskyj standen alle Abgeordneten auf und applaudierten; vielleicht waren Gysi und seine Genossinnen und Genossen diejenigen, die strammer standen und inniger applaudierten als alle anderen. Die Linkspartei ist offenbar bereit, sich ähnlich zu verhalten, wie die SPD 1914. Wer die NATO befürwortet, wird auch deren Kriege absegnen.

Über die Gründe und Ursachen des Ukraine-Krieges kann sicherlich viel gesagt und geschrieben werden; was die immer hervorgehobene Frage des Völkerrechts betrifft, gibt es ohnehin unterschiedliche Standpunkte. Klar ist jedoch, dass das internationale Völkerrecht nie ein Hindernis für Kriege bildete, und kriegsführende Mächte - meist NATO-Staaten - haben darauf bei ihren Entscheidungen nie Rücksicht genommen. Wie immer gilt auch heute das Recht des Stärkeren, und gegenwärtig ist der „Westen“ in jeder Hinsicht die stärkste Macht. Jedem Staat, der gegen die Sanktionen gegen Russland verstößt, wird unverhohlen mit „Konsequenzen“ gedroht. Der „Westen“ setzt nicht auf direkte militärische Konfrontation, sondern auf eine ökonomische Waffe: Sanktionen.

Es wäre eine Zeitverschwendung, endlose Diskussionen über die Doppelmoral und Heuchelei des „Westens“ zu führen. Doppelmoral und Heuchelei ist in allen Lebenssphären weit verbreitet. Es ist nichts außergewöhnliches, wenn Politiker - und auch Kleriker - sich nicht von „normalen Menschen“ unterscheiden. Aus linker Perspektive sollte sich die Debatte auch nicht so sehr um die Gründe und Ursachen eines Krieges und wirtschaftlicher Folgen drehen, denn diese können sehr unterschiedlich sein. Nach einem Krieg folgt oft ein wirtschaftlicher Boom: die Spitzenverbände der deutschen Wirtschaft wollen „die Integration von Geflüchteten in den deutschen Arbeitsmarkt“, und der Spiegel fragt, ob die vielen, gut qualifizierten ukrainischen Frauen unter den Geflüchteten ein „Arbeitsmarktwunder“ in Deutschland in Gang setzen werden.

In den bisherigen Stellungnahmen linker Autoren wird der Frage, wie der Nationalismus die Beziehungen zwischen Menschen/Völkern zerstört, nur wenig oder gar keine Bedeutung beigemessen. Über die Folgen der Aufrüstung steht in einem Thesenpapier, das auf zeitung-gegen-den-krieg.de verbreitet wurde: „Die Politik der Aufrüstung führt die Weltwirtschaft in Krise und Inflation. Sie erhöht die Weltkriegsgefahr. Der russische Krieg gegen die Ukraine verändert, wie alle Kriege dieser Art, in massivem Maß die gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse, indem die Rüstungsindustrie, das große Kapital, teilweise und zeitweilig durchaus auch die Börse (Börsianer-Losung: „Kaufen, wenn Kanonen donnern!“) und das Finanzkapital gestärkt werden. Verbunden ist damit eine Stärkung von politisch rechten Strömungen: von Militarismus, Rassismus, Chauvinismus, Machismus, Frauenfeindlichkeit und eine Verkleisterung der tatsächlichen Klassenverhältnisse.“ In dem Thesenpapier steht alles, was im Zusammenhang mit dem Kapitalismus ohnehin immer von Linken kritisiert wird. Die Aussage könnte kurz und einfach so zusammengefasst werden: Der Kapitalismus ist schlimm, ein Krieg macht alles nur noch schlimmer, also müssen wir gegen den Krieg sein.

Die Bedeutung der konkreten historisch-politischen Zusammenhänge

Eine solche vereinfachende Sicht übersieht die konkreten historischen und politisch-gesellschaftlichen Zusammenhänge, die zu Kriegen führen und „Erbfeindschaften“ hervorbringen. Bekanntlich ist nicht nur das polnisch-deutsche Verhältnis historisch belastet, sondern auch das polnisch-russische. Nach der Oktoberrevolution hätte dies anders verlaufen können, aber der Polnisch-Sowjetische Krieg von 1919 bis 1921 vertiefte den Gegensatz zwischen den zwei Völkern noch mehr. Der Krieg führte zum Erstarken des polnischen Nationalismus und machte das von Großbritannien und Frankreich unterstützte Land so zu einem wichtigen Bollwerk gegen den Kommunismus. Der Hitler-Stalin-Pakt bildete die Fortsetzung der Aufteilungspolitik, der Polen in seiner Geschichte immer wieder zum Opfer fiel. Es ist deshalb verständlich, dass Polen sich gleich von zwei „Erbfeinden“ umgeben fühlt. Das deutsch-polnische Verhältnis wurde durch die „Annährungspolitik“ seit Willy Brandt, die EU- und NATO-Mitgliedschaft verbessert, aber das polnisch-russische Verhältnis ist weiterhin von Feindseligkeit und Misstrauen geprägt.

Über das nach der Oktoberrevolution geschaffene System kann es sehr unterschiedliche Auffassungen geben, aber Tatsache ist, dass es der KPdSU nicht gelang, den Nationalismus zu beseitigen und die Beziehungen zwischen den verschiedenen Völkern grundlegend zu verändern. Die „Nationalitätenkonflikte“ wurden der Sowjetunion zum Verhängnis.

Im Bewusstsein der Völker Osteuropas ist die Herrschaft der Bolschewiki gleichbedeutend mit russischer Herrschaft, auch wenn Stalin ein Georgier, der Pole Felix Dserschinski der erste Chef der Tscheka und Chrustschow ein Ukrainer war. Kritik an der Ukraine-Invasion muss deshalb geäußert werden, weil dadurch nicht nur der ukrainische, sondern auch der russische Nationalismus gestärkt wird. Der von Moskau entfachte Krieg spielt somit der Politik des „Westens“ in die Hände.

Bereits jetzt werden faschistische Gruppen wie das Asow-Regiment als Nationalhelden gefeiert, und sie werden in Zukunft sicherlich eine größere politische Rolle spielen. Das wird wohl auch der mit seiner extrem nationalistischen Rhetorik auffallende ukrainische Botschafter in Deutschland. In Moskau haben sich in der Duma alle Parteien hinter Putin gestellt. Die ganze Entwicklung führt dahin, dass eine „Erbfeindschaft“ entsteht, die auf unabsehbare Zeit die Beziehungen zwischen Ukrainern und Russen durch Hass und Feindschaft prägen wird. Russen werden bereits jetzt überall angefeindete Außenseiter. Die Eintrittskarte für die Wiederaufnahme in die „Völkergemeinschaft“ erteilt der „Westen“ ihnen nur dann, wenn sie ihre eigene Regierung entmachten und das Land sich dem „Westen“ unterwirft.

Die Menschen im Widerstand vereinen

Aus linker Sicht kann es also nicht nur darum gehen, sich Gedanken über Auswirkungen auf die „gesellschaftliche Kräfteverhältnisse“ zu machen. Letztendlich sind Militarismus, Rassismus, Chauvinismus nur einige der Folgen der kapitalistischen Moderne, mit denen Menschen überall auf der Welt konfrontiert sind, wobei hier in der EU weitaus weniger hart als in den meisten anderen Teilen der Welt. Im Zentrum der Kritik an Aufrüstung und Krieg sollte deshalb mehr die Frage des Nationalismus stehen, denn jeder Krieg wird den ohnehin immer stärker werdenden Nationalismus stärken, über den der französische Schriftsteller Maupassant schrieb, es sei „das Basiliskenei, aus dem die Drachenbrut der Kriege hervorschlüpft“.

Es ist nicht die Zeit, umfangreiche Thesenpapiere und Analysen zu verfassen und nochmal alles zu wiederholen, was über die zerstörerische, tödliche Politik der kapitalistischen Moderne bekannt ist. Vielmehr ist es notwendig, dass die linken Kräfte gemeinsam mit Ukrainern und Russen eine Alternative zu der „Friedensbewegung“ der Mainstream-Medien und den etablierten Parteien formieren.

Titelfoto: Rheinmetall Entwaffnen