Eine Wahl zwischen den Machtblöcken steht nicht zur Diskussion

Eine Wahl zwischen imperialistischen Machtblöcken steht nicht zur Diskussion. Es geht nicht um die Staaten. Wichtig sind jetzt die Stimmen aller, die für Selbstbestimmung und Freiheit kämpfen. - Ein Kommentar zum Krieg in der Ukraine

Putin überfällt die Ukraine und tut, was Autokraten gerne tun. Er schert sich nicht um das Völkerrecht, setzt brutal seine imperialistischen (All-)Machtsphantasien durch, nimmt zivile Opfer in Kauf. Panzer rollen, Bomben schlagen ein. Menschen leiden, Menschen fliehen, Menschen sterben. So weit, so schlecht.

Auf der ganzen Welt ist man entsetzt, fassungslos, manchmal auch geschichtsvergessen, wenn plötzlich vom „ersten Krieg in Europa seit dem 2. Weltkrieg“ gefaselt wird. Überall breitet sich Hektik aus mit täglichen Gipfeltreffen auf allen Ebenen. In Sondersendungen reihen sich Bilder von der Front an Interviews mit Menschen vor Ort oder auf der Flucht, ergänzt durch Kommentare von mehr oder weniger klugen Militärstrategen, Russland- bzw. Ukraine-Kennern oder Experten für Außenpolitik. Der Untergang der bisherigen Weltordnung wird prophezeit, die Angst vor einem (Nuklear-)Krieg geht um. Und natürlich darf die Auswirkung auf die deutsche Wirtschaft nicht fehlen.

Allenthalben ist die Wut und Empörung auf den Aggressor im Kreml groß. Gerade in Deutschland lässt sich leicht anknüpfen an die Überzeugung im kollektiven Unterbewusstsein: „Schuld hat der Russe“. Ausgeblendet wird die Expansion der NATO, unerwähnt bleiben die Lockrufe der EU nach „Wandel durch Handel“ und „westlichem Lebensstil“, mit denen das Kapital Absatzmärkte erschließen will.

Die Sympathie gilt jetzt den Ukrainer:innen. Helden sind ein Comedian als Staatspräsident und ein ehemaliger Boxer, der es ins Bürgermeisteramt der Hauptstadt geschafft hat. Die Bewunderung gilt allen, die zu Waffen greifen und ihr Land verteidigen. Für jene, die flüchten, stehen alle Grenzen offen. Empathie breitet sich aus und schnell werden Netzwerke zur Unterstützung geknüpft. Menschen in Not beizustehen ist das Gebot der Stunde – eine ganz normale menschliche Reaktion.

Doch ist da so ein bitterer Nachgeschmack. Und es bleiben Fragen. Zum Beispiel, ob für die vorwiegend aus Südkurdistan oder Afghanistan stammenden Menschen, die seit Wochen hungernd und frierend in den Wäldern an der polnisch-belarussischen Grenze ausharren, endlich auch die Grenzen nach Polen geöffnet werden. Oder sind sie nicht „weiß“ oder christlich genug für Andrzeij Duda und seine rechtskonservative PiS-Partei?

Eine weitere Frage drängt sich auf: Warum tut man so, als seien völkerrechtswidrige Angriffskriege eine russische Erfindung? Als hätte die NATO noch niemals einen „System Change“ herbei gebombt. Wo blieb die Empörung, als ein anderer Autokrat in einem anderen Palast seine Armee im Verbund mit dschihadistischen Söldnern in Nachbarländer (Nordirak, Syrien, Kaukasus) einmarschieren ließ? Vergeblich wartete man auf Sondersendungen über rollende Panzer, Killerdrohnen, über die Massaker und das Leiden der Zivilbevölkerung. Selbst der Einsatz von Chemiewaffen war keine Schlagzeile wert. Dieser Autokrat ist Präsident des NATO-Mitglieds Türkei. Man ließ ihn gewähren und schwieg sich aus, weil dieser Staat geopolitisch, ökonomisch oder sonst wie wichtig ist. Was verrät dies über ein Militärbündnis, das sich gern als „werteorientiert“ und „die „Freiheit verteidigend“ gibt?

Als Präsident Wolodymyr Selenskyj in Kiew angesichts der russischen Bomben die Welt um Hilfe bat, schnürte man eiligst ein „nie dagewesenes“ Sanktionspaket gegen den Aggressor in Moskau. Als sich 2016 Mehmet Tunç, der Ko-Vorsitzende des Volksrates von Cizîr, in einem dramatischen Appell aus den Todeskellern an die Vereinten Nationen, den Europarat und die Europäische Union wandte, wurde der Hilferuf zwar gehört, blieb aber leider unbeantwortet. Kurze Zeit später leitete das türkische Militär Benzin in die Keller und verbrannte 143 Menschen bei lebendigem Leib. Sanktionen gegen die Mörder? Fehlanzeige.

Diese Liste heuchlerischer Doppelmoral ließe sich beliebig fortsetzen. Wer jetzt einwirft, man dürfe in dieser angespannten Situation nicht mit billigem Whataboutism kommen, verkennt, dass es nicht darum geht, einer Seite die Schuld zuzuweisen. Eine Wahl zwischen imperialistischen Machtblöcken steht nicht zur Diskussion. Es geht nicht um Staaten und deren Propaganda, die ihre jeweils eigenen neoliberalen Interessen verfolgen und von Rassismus und völkischer Ideologie geleitet sind. Wichtig sind jetzt die Stimmen aller, die für Selbstbestimmung und Freiheit kämpfen – egal ob sie in der Ukraine, Moskau, Chiapas oder Kurdistan zu Hause sind. Der „dritte Weg“ einer Demokratischen Nation, den Abdullah Öcalan aufgezeigt hat, beschreibt den Weg für ein friedliches Zusammenleben jenseits von Staat(lichkeit), Macht und Gewalt. Diese Botschaft sollte verbreitet werden – heute mehr denn je.