Symbolisches Tribunal gegen die Türkei als Zeichen für Gerechtigkeit
Im Februar fand an der Freien Universität Brüssel das „Permanent Peoples‘ Tribunal on Rojava vs. Turkey“ statt. Diese symbolische Gerichtsverhandlung wurde auf Initiative mehrerer Menschenrechtsorganisationen aus Europa sowie der Autonomieregion Nord- und Ostsyrien einberufen, um die seit 2018 begangenen Kriegsverbrechen und Menschenrechtsverletzungen der Türkei in Rojava zu untersuchen. Das Tribunal steht in der Tradition der sogenannten Russell-Tribunale, die bereits in der Vergangenheit ungesühnte Verbrechen dokumentierten und anprangerten.
Eine Stimme für die entrechteten Völker
Die belgische Journalistin und Menschenrechtsaktivistin Gabrielle Lefèvre war Teil des Richtergremiums dieses Tribunals. In einem Interview mit ANF betonte sie die besondere Bedeutung des Tribunals angesichts der unzureichenden Reaktion der internationalen Gemeinschaft auf die Lage in Rojava. „Die Situation dort ist katastrophal und bewegt sich in Richtung eines Völkermords, ein Umstand, der viel zu wenig bekannt ist und kaum verbreitet wird“, erklärte Lefèvre.
Das Tribunal biete eine Plattform für die Stimmen der betroffenen Bevölkerung und diene als Anklage gegen die systematische Unterdrückung und Gewalt durch die türkische Regierung und ihre verbündeten Milizen. „Es ist das Gericht von Weltbürger:innen, die das Massaker in Rojava und die Vorherrschaft eines Staates über Völker ablehnen. Und es ist das Tribunal derjenigen, die keine anderen Mittel zur Verteidigung haben, und die Solidarität anderer brauchen. Darin liegt die außerordentliche Bedeutung des Ständigen Völkertribunals“, so Lefèvre.
Klare Beweise für Kriegsverbrechen
Das Richtergremium des PPT stellte in einem vorläufigen Urteil bereits fest, dass die vorgelegten Beweise und Zeugenaussagen klare Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit belegen. „Die vorgelegten Fälle wurden alle durch Beweise gestützt. Wir haben es mit Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und beinahe völkermordartigen Zuständen zu tun“, so Lefèvre.
Berichte von internationalen Organisationen wie den Vereinten Nationen, Human Rights Watch und Amnesty International stützten die im Tribunal vorgelegten Beweise. Die Verbrechen, die in den von der Türkei besetzten Gebieten begangen wurden, seien gut dokumentiert und könnten nicht ignoriert werden. Lefèvre betonte, dass selbst hochrangige türkische Politiker ihre Beteiligung an den Gewalttaten offen in den sozialen Medien darstellten und diese als „Kampf gegen den Terrorismus“ rechtfertigten, was eine Verdrehung der Tatsachen sei.
Die Verantwortung der Türkei
Laut Lefèvre kann die Türkei nicht durch den Verweis auf verbündete Milizen aus der Verantwortung genommen werden. Diese Gruppen, die für zahlreiche Verbrechen verantwortlich gemacht werden, seien von der Türkei ausgerüstet, finanziert und kontrolliert. „Diese Milizen oder auch ‚Stellvertreterkräfte‘ handeln unter direkter Kontrolle des türkischen Verteidigungsministeriums. Die Verwaltung in den besetzten Gebieten erfolgt durch die Türkei, es wird Türkisch gesprochen, die Währung ist die türkische Lira, und Sicherheitsaufgaben werden von türkisch geführten Milizen übernommen“, erklärte sie.
Die verwendeten Waffen und Technologien, darunter Drohnen und Kampfflugzeuge, seien ebenfalls in direktem Besitz der türkischen Armee, was die enge Verstrickung der Regierung in die begangenen Verbrechen unterstreiche.
Schweigen der internationalen Gemeinschaft
Ein weiteres zentrales Problem sei das Schweigen und die Untätigkeit der internationalen Gemeinschaft. „Präsident Erdogan weiß genau, dass die geopolitische Situation komplex ist und nutzt dies schamlos aus, um das Völkerrecht zu missachten“, so Lefèvre. Die demokratische, selbstverwaltete und geschlechtergerechte Gesellschaftsordnung Rojavas sei ihm ein besonderer Dorn im Auge, da sie seinem autoritären, nationalistischen und religiös-konservativen Staatsmodell widerspreche.
Die Journalistin zog Parallelen zu anderen internationalen Konflikten wie Palästina, der israelischen Besatzungspolitik und dem Krieg in der Ukraine, um die fortwährende Missachtung des Völkerrechts durch mächtige Staaten zu verdeutlichen.
Die Notwendigkeit von Widerstand und internationalem Druck
„Das Recht, das sich aus der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte ergibt, ist nicht das Recht der Mächtigen. Es ist das Recht aller, die Anerkennung unserer tiefen Menschlichkeit; es sind universelle Rechte, die für alle gleichermaßen gelten. Und es ist unsere Pflicht, uns dies immer wieder vor Augen zu führen.“ Lefèvre betonte, dass die Verantwortung, Kriegsverbrechen begehende Staaten auf die Einhaltung des humanitären Völkerrechts zu drängen, nicht allein bei Regierungen liege, sondern dass auch Bürgerinnen und Bürger aktiv werden müssten: „Wir dürfen nicht resignieren. Wir müssen unsere Regierungen unter Druck setzen, damit sie handeln.“ Selbst kleinere Staaten könnten durch internationale Zusammenarbeit Einfluss nehmen und eine diplomatische Wende herbeiführen.
Lefèvre rief dazu auf, die demokratischen Werte Rojavas als Modell für eine gerechtere Zukunft zu sehen. „Rojava ist ein außergewöhnliches Beispiel für Demokratie, Geschlechtergleichheit und Selbstverwaltung. Diese Werte sind nicht nur für Syrien wichtig, sondern können auch in anderen Teilen der Welt als Vorbild dienen.“
Das „Permanent Peoples‘ Tribunal on Rojava vs. Turkey“ stellt einen bedeutenden Versuch dar, auf die anhaltenden Verbrechen der Türkei aufmerksam zu machen und politischen Druck zu erzeugen. Ob und wie die internationale Gemeinschaft darauf reagieren wird, bleibt abzuwarten.
Foto von Gabrielle Lefèvre © Shnoyi Mendan / ANF