Lecwan Dogan: Was früher Gott war, ist heute der Nationalstaat

Lecwan Dogan ist Internationalist und Mitglied der Volksverteidigungskräfte (HPG) in den Bergen Kurdistans. Gegenüber ANF hat sich der Guerillakämpfer zu den Themen Krieg, Liberalismus und Nationalstaat geäußert.

Krieg ist etwas merkwürdiges. Krieg ist voller Widersprüche. Für uns in Europa ist Krieg immer etwas abstraktes, weit weg. Zumindest für die heutige Generation. Dennoch ist Europa Zentrum des Krieges. Statt wie im 20. Jahrhundert und den Jahrhunderten davor wird der Krieg nun im Nahen Osten und anderen Regionen der Welt ausgetragen. Ich rede dabei vom physischen Krieg. In Sachen Krieg gegen die eigene Gesellschaft ist Europa gerade dabei, sich selbst zu dezimieren. Nirgendwo haben die gesellschaftliche Moral und Werte, welche die Gesellschaft wie ein schützendes Band umgeben und zusammenhalten, so gelitten.

Wie ein Krebsgeschwür

Der Liberalismus rollt wie ein Krebsgeschwür über die europäische Gesellschaft und führt einen kulturellen und moralischen Genozid durch. Wir können den Liberalismus als die Ideologie des Kapitalismus ansehen. Sein Ziel ist es, die Gesellschaft nach dem Motto „Jeder ist seines Glückes eigener Schmied“ bis in den letzten Winkel auseinandertreiben. Die Gesellschaft wird zu Gunsten des Egoismus aufgelöst. Jede Moral, jede Heiligkeit, jeder Respekt vor dem Leben, dem Menschen und der Natur gehen verloren. Das Dasein wird auf ein tierisches Dasein herabgestuft. Der Mensch macht Rückentwicklungen zum Tier.

Alle Erfolge, alle Fortschritte welche der Mensch hervorgebracht hat, von Erfindungen bis zum Wertesystem, hat er als Gesellschaft hervorgebracht. Die Einzigartigkeit, die Stärke, die Schönheit des Menschen liegt in der Gesellschaft. Dieses gesellschaftliche Band, welches die Menschen schützt und voranbringt, aufzulösen, bedeutet die Gesellschaft auszulöschen. Für was? Im Kapitalismus wird durch die Ideologie des Liberalismus, durch Lügen wie den amerikanischen Traum, durch eine „Auge um Auge, Zahn um Zahn“-Philosophie die Gesellschaft bis auf das einzelne Individuum auseinander getrieben, wie noch nie in der Geschichte zuvor. So weit wie eine Gesellschaft gespalten ist, so leicht lässt sie sich auch kontrollieren.

Zehntausende Gesetze ohne Moral

Nirgendwo auf der Welt ist der Militär-Macht-Komplex so fest in den Satteln und verinnerlicht wie in der europäischen Gesellschaft. Der Staat dringt bis in die tiefsten Ebenen der Gesellschaft ein. Es gibt nahezu nichts, bei dem er nicht seine Finger im Spiel hat. Wer sich ein deutsches Gesetzbuch anschaut, weiß, wovon ich rede. Wo der Staat und seine Gesetze stark präsent sind, dort sind die Gesellschaft und ihre Moral schwach und umgekehrt. Dass die Gesellschaft es überhaupt akzeptiert, wenn der Staat sich überall einmischt, ist ein Zeichen, dass die Gesellschaft dort schwach ist.

Eine ethische Gesellschaft braucht keinen Staat und zehntausende Gesetze, um ihre Angelegenheiten zu regeln. Sie akzeptiert auch nicht, dass sich so tief ins Leben eingemischt wird. In Europa ist durch den zur neuen Religion gewordenen Nationalismus und Rassismus der Nationalstaat eine heiligen Autorität geworden. Das, was früher Gott darstellte, stellt heute der Nationalstaat dar. Sein Wort ist Gesetz. Er steht über allem anderen. Nichts und niemand darf seine Autorität in Frage stellen. Wer sich ihm entgegensetzt, ist ein „Gottloser“ oder „Terrorist“ und gehört eingesperrt oder ausgelöscht. Der „Heilige Krieg“, der im 20. Jahrhundert im Namen des neuen Gottes, dem Nationalstaat, geführt wird, übertrifft die Grausamkeiten und Verbrechen der gesamten Menschheitsgeschichte: Gott will es! Der Krieg ist heute subtiler und zeigt sich im moralischen Elend, dem Verschwinden der Kultur der Menschen. Die Menschen werden auf eine Art und Weise gebrochen, dass militärische, rohe Gewalt in dem Ausmaß wie früher gar nicht nötig ist.