Konferenz in Hamburg: Genozide und Wege zur Aussöhnung

Unter dem Titel „Der Nahe Osten: Genozide und Perspektiven für eine Aussöhnung“ veranstaltete das Netzwerk Kurd-Akad eine Konferenz in Hamburg, mit der Wege für eine Aufarbeitung und Demokratisierung gesucht wurden.

Unter dem Titel „Der Nahe Osten: Genozide und Perspektiven für eine Aussöhnung“ veranstaltete das Netzwerk kurdischer Akademiker*innen e.V. (Kurd-Akad) am Samstag eine Konferenz in den Räumen der Werkstatt für internationale Kultur und Politik in Hamburg. Als Referent*innen beteiligten sich Dr. Nikolas Brauns, Historiker und Journalist, Prof. Dr. Dr. Jan Ilhan Kizilhan, Psychologe an der Hochschule Villingen-Schwenningen, Anja Flach, Ethnologin und Nahostexpertin, sowie Dr. Arzu Yılmaz, Politikwissenschaftlerin an der Universität Hamburg. Erklärtes Ziel war die Suche nach Wegen für eine Aufarbeitung und Demokratisierung. Moderiert wurde die Veranstaltung von dem Hamburger Sozialwissenschaftler Ramazan Mendanlioglu.

Ein erstes Forum bezog sich auf die Genozide im Nahen Osten in ihren historischen Kontexten und Auswirkungen. Dr. Brauns befasste sich vor dem Hintergrund des Gründungsmythos der kemalistischen Republik mit der historischen Kontinuität der Genozide in der Türkei Anfang des 20. Jahrhunderts, von den Genoziden an den Armeniern und christlichen Minderheiten im ersten Weltkrieg bis zu den Dersim-Massakern an den Kurden 1937/38. Besondere Aufmerksamkeit schenkte Brauns dabei den ideologischen Wurzeln, die der genozidalen Gewalt den Weg bereiteten und nannte dabei die Vorstellung eines physisch und kulturell zu homogenisierenden Volkskörpers, der dem Turanismus der Jungtürken und dem Kemalismus gemeinsam sei. Während die Vernichtungskampagnen gegen Armenier und Griechen durch die Jungtürken noch teilweise die Merkmale eines vormodernen Dschihads trugen, erheben auch heutige Kemalisten für das Dersim-Massaker den Anspruch, dass hier der Fortschritt gegen Feudalismus und Clanherrschaft verteidigt wurde, so Brauns. In der Realität habe sich der türkische Zentralstaat jedoch auf die feudalen Eliten und den Großgrundbesitz gestützt und so den Charakter der türkischen Republikgründung als „unvollständige Bürgerliche Revolution“ unterstrichen. Bezogen auf die aktuelle Situation betonte Brauns, dass die Ideologie des Turanismus und des Kemalismus bis heute fortwirke, auch wenn unter der AKP-Herrschaft ein Rückfall hinter den Kemalismus zum Neo-Osmanismus zu beobachten sei.

Massenvergewaltigungen an Ezidinnen als psychologische Waffe zur kollektiven Demütigung

Zu der Kontinuität der nahöstlichen Genozide bis in die Gegenwart informierte Prof. Dr. Dr. Kizilhan in seinem Vortrag über den Genozid des „Islamischen Staates“ (IS) an den Eziden ab 2014. Die Verwurzelung der Eziden in der Region verdeutlichte Kizilhan an der Tatsache, dass bis zu ein Drittel aller Kurden kulturelle Wurzeln im Ezidentum haben. Jedoch reiche auch die religiöse Verfolgung der Eziden schon weit in die Vergangenheit zurück und habe die Volksgruppe in der heutigen Zeit an den Rand des Verschwindens aus der Region gebracht, besonders durch Emigration auf Grund der erlittenen Gräuel. Der Genozid 2014 mit tausenden Toten, Entführten und hunderttausend Vertriebenen habe vielen Eziden die Perspektive auf ein Leben in der Region zerstört. Aus der Sicht der Traumaforschung und eigener psychologischer Praxis analysierte Kizhilan die Massenvergewaltigungen durch den IS an ezidischen Frauen als psychologische Waffe zur kollektiven Demütigung und deren mögliche Manifestation als transgenerationelles Trauma. Mangelnder Schutz und fehlende Solidarität durch irakische Peschmerga habe viele Eziden auch dazu gebracht, ihre kurdische Identität abzulegen. Ein Haupthindernis für einen Aussöhnungsprozess und eine tödliche Gefahr für die Region sieht Kizhilan in dem Fortbestehen und der Ausbreitung der dschihadistischen Ideologie auch nach der Abwehr des Islamischen Staates auch unter Kurden. Lösungsansätze sieht er in einer eigenen irakischen Provinz für die Eziden oder einer Autonomie für das ezidische Siedlungsgebiet Şengal.

Hierarchische Herrschaftsformen und Nationalstaat als Hauptursache genozidaler Gewalt

Das zweite Forum widmete sich der Ausarbeitung zukünftiger demokratischer Modelle für den Nahen Osten als Perspektive zu Befriedung und Aussöhnung. Anja Flach gab in ihrem Vortrag eine Einführung in die Selbstverwaltungspraxis in der nordsyrischen Region Rojava, die dortige Frauenbewegung und deren Bedeutung hinsichtlich zukünftiger Friedensbemühungen in der Region. Das parallele Existieren von Rätestrukturen der Selbstverwaltung und gesonderten Frauenstrukturen mit entsprechender sozialer und ökonomischer Infrastruktur mit z.B. Frauenhäusern und Kooperativen trage demokratische Werte in die Gesellschaft und führe außerdem die Frauen aus ihrer Unterdrückung in eine aktive Rolle in der Gesellschaft. Beides beruhe auf Konzepten von Abdullah Öcalan und seiner Analyse der nahöstlichen Gesellschaften. Da in dieser Analyse patriarchale Verhältnisse und hierarchische Herrschaftsformen neben dem Nationalstaat als Hauptursache genozidaler Gewalt identifiziert werden, greifen demokratische Selbstbestimmung und Frauenbefreiung hier direkt an der Wurzel des Problems. Daher gewichte Öcalan das Projekt der Frauenbefreiung in seinen Schriften auch höher als das Projekt der nationalen Befreiung Kurdistans. Für die Perspektive der Region sei dieser Aspekt hoch relevant, da nachweislich die Gewaltrate in Gesellschaften niedriger sei, in denen Frauen eine aktive Position einnehmen und diese auch erfahrungsgemäß auch führende Rollen in erfolgreichen Friedensprozessen einnehmen.

Soziale Transformation als Konstante in vielen innerstaatlichen Konflikten

Dr. Arzu Yılmaz reflektierte erst über die Rolle der Sozialwissenschaften bei der Untersuchung innerstaatlicher Konflikte und warf dann einen Blick auf die aktuell die kurdische Frage bestimmenden sozialen Transformationsprozesse. Die wissenschaftlichen Diskurse im Spannungsfeld zwischen Politik und Ökonomie haben bis nach der Zeit des Kalten Krieges eine Agenda zur kurdischen Frage vermissen lassen, weil diese allein vor dem Hintergrund der Sicherheit von Nationalstaaten betrachtet worden sei. Erst mit der Globalisierung der Menschenrechte sei diese soziologische Frage populärer geworden. Es habe sich gezeigt, dass soziale Transformation als Konstante in vielen innerstaatlichen Konflikten vorhanden sei. Yılmaz nannte für Kurdistan besonders das Bevölkerungswachstum und die Verstädterung als kennzeichnend für die soziale Transformation. Traditionelle Familien- und Stammesbindung verlieren an Bindungskraft und die zahlreiche junge Generation orientiere sich an anderen Strukturen. Besonders die kurdische Identität und die Kommunalisierung habe eine neue Integrationskraft entfaltet. Die Lösung der kurdischen Frage werde von der Ablösung vom Zentralismus abhängen.

Visionen und Perspektiven für die Aufarbeitung der Genozide

In der Abschlussdiskussion erarbeiteten die Referent*innen gemeinsam mit dem Publikum Visionen und Perspektiven für die Aufarbeitung der Genozide und der Demokratisierung. Dr. Brauns betonte aus aktuellem Anlass entgegen kemalistischer Erzählungen die direkte Verantwortung Mustafa Kemals für die Dersim-Massaker, die durch die Enthüllung der Dokumente zu Giftgasbestellungen in Deutschland noch einmal unterstrichen wurde, selbst wenn diese durch die AKP lanciert sei. Trotzdem sei entscheidend, dass Kemalisten und Kurden zwar durch die Geschehnisse der Vergangenheit getrennt, aber durch eine ähnliche Vision von der Zukunft vereint seien, die eine plurale Demokratie in der Türkei umfasse.

Prof. Dr. Dr. Kizilhan nannte die Vernetzung der verschiedenen kurdischen Organisationen als Weg zu einer Nationenbildung, die Einheit nach außen schaffen solle. Auf diesem Weg mahnte er auch die Mobilisierung des kurdischen Wählerpotentials in Deutschland an, um die Außen- und Sicherheitspolitik der Bundesregierung im kurdischen Interesse beeinflussen zu können.

Dr. Arzu Yılmaz zeigte sich angesichts von Umfragewerten pessimistisch bezüglich einer demokratischen Lösung in der Türkei, aber verwies auch auf die politischen Potentiale vor Ort, die Anlass zur Hoffnung geben.

Anja Flach wies auf die Krisenhaftigkeit der kapitalistischen Moderne auch außerhalb des Nahen Ostens hin und mahnte die Verbreitung des Modells der basisdemokratischen Selbstorganisation als Lösungsmöglichkeit an.