Der Armeniergenozid jährt sich zum 104. Mal. Die Türkei baut als Staat auf dem Genozid an der armenischen Bevölkerung auf. Der Staat der Täter hat sich bis heute nicht mit dem Massenmord an der armenischen Bevölkerung (Aghet) auseinandergesetzt, verweigert die Anerkennung und verfolgt die Bezeichnung des Mordes an mindestens 1,5 Millionen Armenier*innen als Genozid weiterhin. Jedes Land, das den Genozid anerkannt hat, ist mit Protestnoten und Drohungen von Seiten des Erdoğan-Regimes überzogen worden. Der türkische Staat ließ seine Unterstützer in den entsprechenden Ländern aufmarschieren.
Die eng mit dem AKP-Regime verbandelte deutsche Bundesregierung entzog sich der Anerkennung des Genozids immer wieder und stellte sich damit in den Fokus der Kritik. Insbesondere nach der Ermordung des Herausgebers der armenischen Zeitung Agos, Hrant Dink, im Jahre 2007, rückte der Armeniergenozid auch in der Türkei und Nordkurdistan wieder in den Fokus. Während prominente kurdische Politiker wie Ahmet Türk offiziell für die Taten kurdischer Kollaborateure im Armeniergenozid um Vergebung baten, tat der türkische Staat nichts dergleichen. So ließ Erdoğan in Qers (Kars) ein Denkmal an den Armeniergenozid als „abscheulich“ abreißen, sein Zwangsverwalter in Ertemêtan (Edremit) ließ öffentliche Toiletten auf einem armenischen Friedhof errichten.
Verfahren wegen Gesetzentwurf zum Genozid
Die Kriminalisierung reicht bis in die Politik. Gegen den armenischen Abgeordneten der Demokratischen Partei der Völker (HDP), Garo Paylan, wurde wegen eines Gesetzentwurfs zum Armeniergenozid ein Verfahren wegen „Herabsetzung der türkischen Nation“ nach Paragraf 301 eingeleitet und die Aufhebung seiner Immunität gefordert. ANF sprach mit Paylan über den Genozid und die aktuelle Politik des türkischen Staates.
Das armenische Volk wartet seit 104 Jahren auf Gerechtigkeit
Paylan erklärt zur Haltung des türkischen Staates zum Genozid und der Anerkennung des Genozids in verschiedenen Ländern: „Das Verbrechen des Genozids wurde in diesem Land begangen, aber die Türkei hat sich damit bis heute noch nicht konfrontiert. Das armenische Volk wartet seit 104 Jahren auf Gerechtigkeit. Diese Gerechtigkeit erwarten wir natürlich nicht vom US-Senat oder dem französischen Parlament. Natürlich sind die Aufrufe und die Proteste dort für uns wichtig, der Ort, an dem unser Leid gelindert werden kann, ist aber die Türkei. Nur Schritte, die im Gewissen der Bevölkerung der Türkei und im Parlament stattfinden, können eine Linderung herbeiführen. Aber trotz vereinzelter positiver Anstrengungen in den vergangenen 104 Jahren wird die Auseinandersetzung mit dem Genozid heute nicht nur an den Rand gedrängt, der Genozid wird verborgen und geleugnet.“
Ohne Auseinandersetzung mit der Vergangenheit kann in der Gegenwart keine Lösung erfolgen
Befragt nach dem Verfahren gegen ihn, wegen des Gesetzesentwurfs, den er zum Armeniergenozid eingebracht hatte, sagt Paylan: „Die armenische Frage stellt ebenso wie die kurdische Frage ein Grundproblem der Türkei dar. Diese Frage hängt auch direkt mit der Frage nach Demokratie zusammen. Der Staat hat sich seit 104 Jahren nicht mit seinen Verbrechen auseinandergesetzt. Seine heutigen Taten, stellen so eine Fortsetzung der Verbrechen von damals dar. Die Beleidigungen und Angriffe auf unsere Mütter in Gebze vor wenigen Tagen stellen eine Fortsetzung dieser Sünde dar. Jedes einzelne der heutigen Verbrechen gegen die kurdische und die alevitische Bevölkerung und gegen die Gesellschaft der Türkei ist eine Version dieser Taten. Wir müssen uns mit der Vergangenheit auseinandersetzen und das heutige Übel stoppen. Wenn man sich nicht mit der Vergangenheit auseinandersetzt, kann man in der Gegenwart keine Lösung schaffen. Wir waren vor zehn Jahren ganz allmählich dorthin gekommen, insbesondere durch den Kampf von Hrant Dink und den Aufschrei nach Gerechtigkeit, der nach seiner Ermordung erklang. Aber wir sind nun wieder in eine dunkle Zeit eingetreten. Und dennoch ist es wichtig, einen Kampf für Gerechtigkeit in Bezug auf die Vergangenheit und die Gegenwart zu führen.“
Was vor 104 Jahren geschah, zeigt sich heute im Massaker von Sûr
Garo Paylan fährt fort: „Die Bevölkerungsstruktur von Sûr bestand zu 50 Prozent aus Armeniern und Assyrern. Das Massaker, das der Gouverneur von Diyarbakır auf Befehl von Talat Pascha beging, spiegelt sich im Massaker von Sûr vor drei Jahren wieder. Vor 104 Jahren haben die Armenier ein Zusammenleben in Gleichheit, Gerechtigkeit und Freiheit gefordert, aber diese Forderungen wurden nicht erfüllt, stattdessen wurden sie vernichtet. Seit langen Jahren kämpft das kurdische Volk um seine Freiheit, wird aber kriminalisiert. Eine Politik der Massaker und der Einschüchterung wird praktiziert. Wenn wir die staatliche Politik in diesem Kontext betrachten, dann können wir eine 104 Jahre andauernde Kontinuität feststellen. Der Armeniergenozid ist straflos geblieben und wiederholt sich heute wieder.“