Mit brutaler Polizeigewalt wurde am vergangenen Samstag in Istanbul die bereits 700. Mahnwache von Angehörigen der „Verschwundenen“, die in den 1980er und 1990er Jahren gewaltsam von staatlichen Kräften verschleppt wurden, aufgelöst. Zuvor war die Demonstration vom türkischen Innenminister wegen angeblichen Verbindungen der Mütter zu „Terrororganisationen“ verboten worden. Der zentrale Galatasaray-Platz, auf dem die Samstagsmütter seit 23 Jahren Aufklärung über den Verbleib ihrer Angehörigen fordern, wurde von der Polizei mit mehreren Hundertschaften abgeriegelt. Anschließend fuhren die Sicherheitskräfte mit Wasserwerfern auf und griffen die Menschenmenge mit Tränengas und Gummigeschossen an. Insgesamt 47 Menschen wurden vorübergehend festgenommen, darunter etliche Angehörige von Verschwundenen, Menschenrechtsaktivist*innen und Medienschaffende.
Der armenische Journalist Arat Dink, Sohn des vor über elf Jahren auf offener Straße von einem türkischen Rechtsextremisten ermordeten Agos-Herausgebers Hrant Dink, ging am Samstag ebenfalls auf den Galatasaray-Platz, um den friedlichen Protest der Samstagsmütter zu unterstützen. Während es zu den brutalen Festnahmen kam, verhinderten die HDP-Abgeordneten Serpil Kemalbay, Hüda Kaya, Ahmet Şık und Garo Paylan, dass auch Dink in Gewahrsam genommen wird. Zuvor hatten die Parlamentarier*innen ein „menschliches Schutzschild“ gebildet, um Gewalt gegen Protestierende abzuwehren. Beim Übergriff auf Dink wurden auch die Abgeordneten tätlich angegriffen. Garo Paylan ist dabei von einem Polizisten in den Würgegriff genommen worden. Den Moment hielt der Cumhuriyet-Korrespondent Vedat Arık mit seiner Kamera fest, das Bild ging um die Welt.
‚Seite an Seite mit den Samstagsmüttern auf der Suche nach Gerechtigkeit‘
Im Gespräch mit der Nachrichtenagentur Mezopotamya hat sich Paylan zu dem Polizeiübergriff geäußert. Gegenüber dem Journalisten Muhammet Doğru sagte Paylan: „In dem Moment waren wir alle Kämpfer*innen, die Widerstand gegen die Festnahme ihrer Genoss*innen geleistet haben“.
Das Bild sei nur eine Momentaufnahme des 23-jährigen Kampfes der Samstagsmütter, die seit 700 Wochen Widerstand auf dem Galatasaray-Platz leisten, so Paylan weiter. „Alle gewissenhaften Menschen stehen Seite an Seite mit diesen Müttern auf ihrer Suche nach den Gebeinen ihrer Kinder. An dem Tag haben wir einen Kampf gegen brutale Sicherheitskräfte geführt, die im wahrsten Sinne des Wortes im Auftrag des Bösen gehandelt haben. Unzählige Male wurden diese Menschen zum Ziel von Angriffen, die wir versuchten zu unterbinden. In dem Moment, als es zu weiteren Festnahmen kommen sollte, wirkten wir wie Barrieren, die ineinander greifen“, sagte Paylan.
Die Abgeordneten hätten versucht ihr Bestes zu geben, um niemanden hergeben zu müssen, so der Parlamentarier: „Weder ich war in der Situation Garo Paylan, noch waren meine Freundinnen und Freunde in dem Moment Abgeordnete. Wir haben gekämpft und Widerstand gegen die Festnahme unserer Genoss*innen geleistet. Denn hätten sie unsere Freund*innen bekommen, wären wir als nächste dran gewesen. Dann hätten die Wasserwerfer freie Fahrt, um das Volk anzugreifen. Wir haben uns zu einem Schutzschild geformt, um einen Übergriff auf die Menschen zu verhindern“.
‚Solch eine Schande darf nicht wieder passieren‘
Den Vorwurf des Innenministers, die Samstagsmütter würden sich von „Terrororganisationen” instrumentalisieren lassen, verurteilte Paylan scharf: „Die Aussagen Soylus deuten darauf hin, dass auch die 701. Mahnwache verboten wird. Wir werden jedoch wieder dort sein. Wir möchten nicht, dass die Forderung unserer Mütter nach Gerechtigkeit kriminalisiert wird und dass sie an dem Ort, an dem sie Aufklärung zum Verbleib ihrer Angehörigen fordern, mit solchen Abscheulichkeiten konfrontiert werden. Solch eine Schande darf nicht wieder passieren. Wir haben es jedoch mit einer Regierung zu tun, die nicht mal über einen Funken Staatsintelligenz verfügt und dieses Land immer weiter nach unten zieht. Wir alle sind mit Skrupellosigkeit und Bösartigkeit konfrontiert, werden dem aber entschieden entgegentreten und Widerstand leisten. Wir werden das tun, was uns unsere Mütter auftragen. Wenn sie sich dazu entscheiden, erneut dort zu sitzen, werden wir ihnen zur Seite stehen. Ich rufe die gesamte Bevölkerung dazu auf; egal, was auch immer geschehen mag, den Ruf nach Gerechtigkeit unserer Mütter zu hören“.