Kommentar: Papier ist geduldig

„Wenn aktuell die Parteien versuchen, sich mit ihren Verbotsforderungen zu überbieten, dann stellen Oppositionelle die berechtigte Frage, warum erst jetzt?” Ein Kommentar von Cansu Özdemir über die Forderungen nach einem Verbot der „Grauen Wölfe”.

Es wurde höchste Zeit, dass sich der Bundestag endlich mit der neofaschistischen Bewegung „Graue Wölfe” befasst. Mit einem interfraktionellen Antrag forderten SPD, CDU/CSU, FDP und Grüne die Bundesregierung unter anderem auf, den Einfluss der „Ülkücü”-Bewegung zurückzudrängen und gegen die Vereine dieser Bewegung Organisationsverbote zu prüfen. Dieser Antrag wurde angenommen und somit startet der Prozess für ein Überprüfungsverfahren.  

Mit einem eigenen Antrag forderte die Linksfraktion ein sofortiges Organisationsverbot. Das interfraktionelle Bündnis hat gezielt die DIE LINKE ausgegrenzt. Ausgerechnet die Fraktion also, die seit Jahren immer wieder aufs Neue vor der Gefahr durch türkisch-islamistische und türkisch-nationalistische Organisationen warnt und den Einfluss des türkischen Staates auf die politische Agenda setzt. Es ist ein seltsamer Schritt, die Linken im Kampf gegen türkische Faschisten auszugrenzen – obwohl es doch gerade linke Kräfte sind, die parlamentarischen und die außerparlamentarischen, die sich seit Jahren auf der Straße den Faschisten in den Weg stellen.  

Wenn aktuell die Parteien versuchen, sich mit ihren Verbotsforderungen zu überbieten, dann stellen Oppositionelle die berechtigte Frage, warum erst jetzt? Während Oppositionelle in Deutschland von türkischen Rechtsextremisten verfolgt wurden, richtete sich die staatliche Repressionspolitik nicht gegen die Verfolger, sondern gegen die Verfolgten.  

Keine der Fraktionen, die den interfraktionellen Antrag unterzeichnet haben, hat sich selbstkritisch mit ihrer bisherigen Politik auseinandergesetzt. Auch nicht mit ihrer jahrzehntelangen Politik des Schweigens, des Wegguckens und des Weghörens, und auch nicht mit der Verharmlosung und der Kooperation den türkischen Rechtsextremisten.   

Mit Unterstützung der CDU und der CSU wurde 1978 die „Föderation der Türkisch-Demokratischen Idealistenvereine in Deutschland” (ADÜTDF, kurz auch „Türk Federasyon”), die Auslandsabteilung der neofaschistischen Partei MHP, in Frankfurt am Main gegründet.  Man hat also aktiv dabei mitgeholfen, eine Bewegung zu stärken, die ultranationalistisch und islamistisch ist! Eine Bewegung, die als Feindbilder Armenier:innen, Kurd:innen, Jüd:innen, Êzîd:innen, Alevit:innen und Christ:innen sieht. Ihr Hass richtet sich auch gegen LGBT-Personen und feministische Bewegungen. Sie sind verantwortlich für Hunderte politischer Morde in der Türkei, aber auch für Morde in Deutschland und für die Verfolgung der genannten Oppositionellen. Täter, die am Pogrom gegen Alevit:innen in Sivas beteiligt waren, konnten jahrelang unbehelligt in Deutschland leben. Das Wahlbündnis „Cumhur Ittifaki” (Volksallianz) zwischen der AKP und MHP, das seit 2018 existiert, hat zu einer erneuten Stärkung und Radikalisierung der Ülkücü-Bewegung in Deutschland geführt. Die „Grauen Wölfe” sind auch Nährboden für Dschihadist:innen in Deutschland. All das sind – auch wenn es nun so präsentiert wird – keine wirklichen Neuheiten.   

Ich werde hier nicht aufzählen, wie viele und wie grausame Verbrechen auf die Kappe der „Grauen Wölfe” gehen. Ich werde auch nicht zum wiederholten Male auf die Rockergruppen in Deutschland hinweisen, die vom türkischen Diktator Erdogan finanziell gefüttert werden und Jagd auf Oppositionelle in Deutschland machen.  

Alle Bundesregierungen wussten von der Gefahr durch die „Grauen Wölfe" und der Verfolgung Oppositioneller in Deutschland und haben jahrzehntelang den Aufbau dieser Strukturen toleriert und teilweise auch unterstützt. Auch die Unterwanderung ihrer eigenen Parteien haben sie hingenommen, um auf Stimmenfang in deren Anhängerschaft  gehen zu können.  

Und wenn Cem Özdemir nun meint, man müsse die „Grauen Wölfe” verbieten, weil man ja auch die PKK verboten hätte, dann ist das nur eine schwache Argumentation, die davon ablenken soll, dass die eigene Politik von Heuchelei nicht zu übertreffen ist. Es ist der Versuch, eine progressive und feministische Bewegung mit einer neofaschistischen Bewegung gleichzusetzen. Wohlwissend, dass der bewaffnete Widerstand gerade aus der höllischen Verfolgung des türkischen Staates und mörderischer Organisationen wie der „Grauen Wölfe” entsteht.  Und war es nicht Cem Özdemir, der davon sprach, man könne sich den IS-Milizen nicht mit der Yogamatte entgegenstellen? Man darf sich also gegen islamistische Terroristen mit Waffen wehren, wird aber als Terrororganisation eingestuft, wenn der Widerstand sich gegen den „falschen“ Unterdrücker, in dem Fall der türkische Staat, richtet? Eine Denkweise, die politisch nicht ernst zu nehmen ist.

Beschlossene Prüfanträge können viel heißen und Papier ist geduldig. „Ein Verbot wird überprüft” bedeutet aber nicht, dass ein Verbot auch umgesetzt wird. 

Es braucht gesellschaftlichen Druck, um die Bundesregierung zu einem solchen Verbot zu bewegen. 


Cansu Özdemir ist Ko-Vorsitzende der Fraktion DIE LINKE in der Hamburgischen Bürgerschaft